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Vorträge der Veranstaltung »Was war da los In Hamburg« vom14. Nov. 2017

VORTRÄGE: WAS WAR DA LOS IN HAMBURG? RIOT. THEORIE UND PRAXIS DER KOLLEKTIVEN AKTION

By Dellwo/Seibert/Szepanski
17 SEP , 2017 

Dokumentation der Beiträge zur NON-Veranstaltung am 14.9.2017 in Frankfurt, KOZ-Universität.

Was war da los in Hamburg? Riot. Theorie und Praxis der kollektiven Aktion

I.

Was geschah in Hamburg?

Ich möchte hier nun keinen Situationsbericht geben wann was war und was en Detail passiert ist. Ich denke, es ist weitgehend bekannt.

Gegen den G20 Gipfel hatte sich monatelang ein Widerspruch gebildet, der teils mit dem Anspruch verbunden wurde, den G20 Gipfel zu verhindern bzw. in die Elbe zu kippen, wie es populär-radikal postuliert wurde.

Heute weiß man, dass der Staat nicht wie zuvor behauptet, 20.000 Polizisten in Hamburg zusammenzog, sondern über 31.000, darunter diverse Sondereinsatzgruppen aus Deutschland, GSG9 und MEKs, Sondereinsatzgruppen aus Polen oder wie die Cobra aus Österreich.

Technologisch wurde alles aufgefahren was an modernster Polizeitechnologie aufzufahren war. 43 Wasserwerfer, Räumfahrzeuge, weit über 3000 Einsatzfahrzeuge, gepanzert und nicht gepanzert, 19 Hubschrauber, von denen mindestens 3 Hubschrauber ständig in der Luft waren, flächendeckendes Scannen der Stadtteile mit Infrarot-Kameras, Drohneneinsatz, für Millionen Euro wurde eine Gefangenensammelstelle gebaut und die Justiz wurde angewiesen, genügend Schnellrichter zur Verfügung zu stellen, die im 24-Stunden-Sichtbetrieb Inhaftierungen vornehmen sollten.

Große Teile der Stadt wurden zum Polizeiterritorium erklärt und als öffentlicher Raum gesperrt. Die Grenzkontrollen wurden verstärkt und anfahrende Züge bereits im 1000 km entfernten Basel angehalten und stundenlang durchsucht.

Hier ist ein kleiner Vergleich angebracht: Alle westlichen Staaten zusammen setzten 2016 ca. 13.000 Soldaten in Afghanistan ein, um die Rückkehr der Taliban an die Macht zu verhindern.  Man kann also mit deutlich weniger Einsatzkräfte ganz andere Konflikte kontrollieren.

31.000 Polizisten und Spezialkräfte sind dem Widerspruch geschuldet, dass die Machtdurchsetzung verbunden bleiben muss mit der Aufrechterhaltung eines politischen Konsens in der Bevölkerung.

Hier kompensiert die Masse der eingesetzten Polizisten und der eingesetzten Mittel die politische Schranke, die vor dem Umschlag in eine offenen Bürgerkriegssituation steht, für die es auf Grund der politischen Stabilität in Deutschland nicht den geringsten Anlass gibt und die auch von Seiten der politischen Klasse von niemanden gewollt wird.

Andererseits gab es auch das große Interesse, ein bürgerkriegsähnliches Kampfszenario aufzubauen und zu testen.

Ist das jetzt das Auftreten des Polizeistaates?

Man neigt dazu, es so zu bezeichnen, aber es ist mehr der Eindruck aus dem Bann des Augenblicks. Es befriedigt mit der verbalen Attacke unsere Wut, fasst aber die Situation nicht wirklich.

Denn wenn die Konfrontation vorbei ist, fällt alles in den Modus von Normalität zurück. Diese Normalität muss weder politisch angeordnet werden, noch bedarf es zu ihr eine Übergangsphase. Die Lage fällt aus sich selbst heraus dahin zurück.

Was heißt das? Offenkundig ist, dass der Sicherheits- oder Ausnahmestaat hier nicht aus irgendeinem demokratischen Zustand heraus in die Realität transformiert werden muss, sondern er ist immanent vorhanden.

Der Sicherheits- und Kontrollstaat ist der neue Kern, die neue, vollendete Substanz der bürgerlichen Demokratie, nachdem diese zur rein formalen Demokratie geworden ist.

Diese Transformation, die in gewisser Weise »unsichtbar« verlaufen ist, korreliert mit einer anderen Transformation, die ebenso »unsichtbar«, aber mit der gleichen fatalen Bedrohung gegen das Subjekt in den Jahrzehnten seit Mitte der sechziger Jahre vonstatten ging: der Transformation des gesamten Lebens des Menschen in die Verwertungswelt des Kapitals.

Die Sicherheits- und Kontrollgesellschaft kennt das gesellschaftliche Subjekt nur noch als Zurichtungsobjekt.

Der Polizeieinsatz zum G20 enthielt deutliche Momente einer kollektiven körperlichen Züchtigung, auf die bereits Thomas Seibert an anderer Stelle hingewiesen hat.

Das Einschlagen auf die Welcome-to-Hell-Demonstranten am Fischmarkt in Hamburg war auf nichts anderes ausgerichtet.

Verhaftungen waren gar nicht beabsichtigt, sondern es ging hier offensichtlich um die Einführung einer staatlichen Prügelstrafe für unangepasstes Verhalten.

Diese Prügelstrafe ist die andere Seite einer vom Staat aus gewünschte De-Politisierung der Gesellschaft, für die er auch genügend ideologische Protagonisten hat.

So meldet sich der »Gewaltforscher« Jan Philipp Reemtsma in bekannter Tradition wieder zu Wort:

»Wer in dieser Art gewalttätig ist, regrediert dabei, das heißt, er kommt in Kontakt mit früheren Seelenregungen und wird in gewissem Sinne zum trotzigen Kind, das sein Kinderzimmer zerlegt.«

Für das gewalttätige Kind gibt es den Psychologen, Prügel oder Ritalin.

Der Einsatz von Prügel ist übrigens gängige Normalität in den Gefängnissen des Systems.

Das polizeilich umgesetzte Erziehungsmittel wird ergänzt und legalistisch abgesichert von neuen juristischen Tatbeständen. Das Einnehmen einer »embryonalen Schutzhaltung«, also das Anspannen der körperlichen Muskeln wenn man weggeschleppt wird, um im Selbstschutz die Gefahr von Verrenkung oder Überdehnung zu minimieren, ist von der Hamburger Justiz im Rahmen der justiziellen Nachsetzens gegen die Angeklagten als »strafverschärfender Widerstand« definiert und in der Strafbemessung angewandt worden.

Wir leben im Zustand eines gesellschaftlichen Erziehungsheimes. Das System tritt mit dem Verlangen der vollständigen Wehrunfähigkeit auf. Die Verweigerung des Ansinnens, sich als willigen und kompatiblen Baustein in seine Prozesse zu integrieren, ist straffähig und wird verfolgt. Im Ausnahmezustand wird das Gebot zum blinden Gehorsam Gesetz.

Proteste sind nur noch dann legale Proteste, wenn sie die Absichten der Herrschenden in keiner Weise tangieren.

Sie dürfen artikuliert werden in Form von Folgenlosigkeit, allenfalls im Bitten um eine paternalistische Resonanz von Seiten der politischen Klasse, also eingebracht aus einer Art von gesellschaftlichen Reservat für Unmündige. Dort wird die allumfassende reale gesellschaftliche Verohnmächtigung des Menschen eingehegt in buntes Treiben, welches sich wiederum von üblichen Eventereignissen in der Gesellschaft, von Schlagermove und Loveparade, von Cyclassics und Marathonwettbewerben durch nichts unterscheidet und sich selber nur im Bereich des zugelassenen allgemeinen Tittitainments bewegt und bewegen darf.

Hier soll das vereinzelte Individuum in die ihm zugedachte Rolle der Konsummonade voll aufgehen.

Wovon wir hier also reden, ist die von außen vorangetriebene und von innen abverlangte Selbstvernichtung des Subjekts in seiner Einpassung in die Totalitär gewordene Warengesellschaft.

Die Frage ist, ob der Begriff von Biomacht für das 24-stündig währende Einschreiben der Systemerfordernisse in die Leiber und Regungen der Individuen, abgesichert durch einen hochmilitarisierten Staat, diesen Zustand überhaupt noch fasst oder ob hier nicht die Entwicklung von Begrifflichkeiten wie Biofaschismus zwingend sind, um sich der neuen Realität des Subjekts und der Bestimmung des Staates und des Systems zu nähern.

Der polizei-militärische Aufwand zum G20-Gipfel ist eindeutig nicht als erste repressive Instanz des Systems nach innen zu definieren, um – wie im alten Faschismus – über das Installieren eines offen gewalttätigen Staatsapparates das Individuum zu kontrollieren und zu beherrschen.

Deswegen ist er auch nicht gebunden an eine von außen herangetragene ideologische Bestimmung wie Rasse oder Nation.

Vielmehr tritt er hier als zweite, als absichernde Instanz auf, die aus der Normalität austritt, um dann diese Normalität und damit deren Einschreibungsmacht in die gesellschaftlichen Subjekte quasi von seitwärts aus abzusichern.

Ziel dieser aus der gesellschaftlichen Normalität herausgehenden Instanz ist das Beenden einer Irregularität im System, also eines aufscheinenden Widerstands. Nur als solches wird der Widerstand registriert und verwaltet: Als irreguläre Auswuchtung im Systemkosmos, die mit einer aus dem System quasi schon automatisiert ausfahrenden Herrschaftstechnologie ausgeglichen werden soll.

So wie diese Instanz auf Bedarf auftaucht, so kann sie auch sofort wieder verschwinden in den Zustand der Latenz und überlässt dann einer Normalität das Feld, die aus sich heraus schon permanent das Subjekt attackiert und von jeder Geschichte abtrennt und es entwurzelt.

Der 24-Stunden-Tag des Kapitals ist in der Regel ausreichend zur ständigen Fremd- und Selbst-Synchronisierung von Subjekt und System. Indem das Subjekt darin eingefangen ist, täglich und stündlich Handlungen vorzunehmen, die das Interesse des Verwertungssystems zur Grundlage haben, agiert es gegen sich selbst und verliert mit der permanenten Reproduktion dieses Verhältnisses die Erfahrung einer anderen, davon nicht bestimmten Lebensgrundlage. In diesem Prozess konditioniert sich das Subjekt auch von seiner Seite aus zum Objekt und geht dann in das Objektverhältnis des Systems weitgehend nahtlos auf, jedenfalls im Grundsätzlichen.

Diese durch die äußeren Signale ständig abgerufene Selbstaufgabe macht den Unterschied zum Militäreinsatz in Afghanistan aus. Es spricht damit auch davon, dass die Menschen in den Metropolen entfremdeter, aber auch von einem eigenen Selbst weit mehr enteigneter sind als in jenen Teiler der Welt, in denen der 24-Stunden-Tag des Kapitals erst noch militärisch vorbereitet werden muss.

Dort muss der Gegner offen besiegt, unterworfen und notfalls vernichtet werden. Dort wird die Souveränitätsfrage über die Welt in klarer Eindeutigkeit gestellt. Dort tritt ein Antagonismus offen zu Tage, der von Seiten der westlichen Welt für sich entschieden werden soll.

Unsere Lage ist in gewisser Weise fataler: in den Metropolen des westlichen Kapitalismus ist der Antagonismus politisch, also als bewusste Konzeption von Gegengesellschaftlichkeit, vom Tisch gewischt worden.

Im Inneren trat dieser Antagonismus zuletzt als politische Realität in all diesen Gruppen auf, die die Machtfrage mit dem kapitalistischen System in der Praxis – oft bewaffneten Praxis – aufwarfen durch reale Angriffe.

Er existierte aber auch dort – wenn auch nur als theoretischen Anspruch – wo der Systemsturz wenigstens als Festlegung im Partei- oder Organisationsprogramm für die Zukunft als notwendig erklärt war.

Im Äußeren existierte dieser Antagonismus im Verhältnis von Liberalkapitalismus und Realsozialismus und ging 1989 politisch im gesellschaftlichen Bewusstsein unter.

Das Verschwinden des Antagonismus als real-vorstellbarer Horizont in der Gesellschaft führte bekanntlich Francis Fukuyama zu seiner Verblendung, dass das Ende der Geschichte erreicht sei.

Dieses Verschwinden des politischen, also des bewussten Antagonismus gegenüber der kapitalistischen Vergesellschaftung von Mensch und Natur kennzeichnet unsere Lage, denn es blockierte jede strategische Umwälzungskonzeption auf unserer Seite.

Im Riot in Hamburg ist dieser Antagonismus plötzlich als Realhandlug wieder aufgeschienen. Aber er setzt keine Strategie und entwickelt keine langfristige Potenz.

So wie er erscheint, so verschwindet er wieder und hinterlässt die gleiche Ohnmacht, die ihm voraus ging. Das war leicht zu erkennen in den Hassreaktionen von Linken – aber nicht nur von Linken – als der formale bürgerliche Staat nach dem Riot zur Abrechnung schritt und den holländischen Gefangenen zu 2 Jahren und 7 Monaten verurteilte.

Der Hass verwies auf die Ohnmacht, irgendetwas Wirksames, irgendein Moment von kollektiver Stärke dagegen entwickeln zu können.

Zu verteidigen ist der Riot trotzdem. Er enthält das unverzichtbare Moment des Nichtverhandelbaren.

Erst aus dieser Position heraus werden wir in der Lage sein, uns gegen das Ganze zu stellen.

Damit unterscheiden wir uns signifikant von der Systemlinken, die von ihrer angezielten Stellung im System heraus unmöglich in die Lage kommen kann, ein »Außen« des Systems zu etablieren und damit unmöglich in eine Position kommen kann, grundsätzlich etwas zu ändern.

In der Reaktion des politischen Staates drückte sich der Schock über die Ereignisse, also die Vehemenz der militant gestützten Ablehnung des Gipfels aus.

Hintergrund dieses Schocks ist die die politische Kaste anspringende Erfahrung, dass die Zukunftsentwicklung vielleicht doch nicht wie selbstverständlich auf ihrer Grundlage verläuft und dass es nicht selbstverständlich ist, dass die große Mehrheit mit ihnen immer mitläuft.

Hierin mag auch der Grund dafür liegen, dass die zweite Bürgermeisterin in Hamburg, die gleichzeitig Senatorin im Bereich der Wissenschaft ist, die Grünen-Vertreterin Katharina Fegebank, sich nach den Ereignissen im Schanzenviertel befleißigt sah, an der großen Massendemonstration gegen den G20-Gipfel teilzunehmen, sozusagen im Widerstand gegen sich selbst und die eigene Rolle. Ein Identitätskonflikt.

Der ausgefahrene Polizeiapparat spricht aber nicht von einer höheren Erkenntnisfähigkeit der Polizei gegenüber der Politik. Er spricht nur von der Existenz des Apparates, dass er da ist und bereit ist, jederzeit auszufahren.

Seine Fähigkeit wird weiter vorangetrieben. »Die Gefahr«, hieß es in einem bekannten Plakat aus den frühen 70er Jahren, »geht vom Menschen aus«. In diesem Sinne treibt der Bundesinnenminister Thomas de Maizière den öffentlichen Ausbau von Gesichtserkennung auf öffentlichen Plätzen voran, der mit hoher Wahrscheinlichkeit dann irgendwann die Stimmerkennung oder die Erkennung von anderen unverwechselbaren individuellen Kennzeichen des Individuums folgen wird. Daran sieht man, dass jede Erfahrung für den Apparat nur eine ist, um sich selber zu totalisieren. Man sieht aber gerade auch an diesem Innenminister, dass der Staat jene Verwaltungscharaktere ständig neu hervorbringt, für die jemand wie Adolf Eichmann prototypisch steht.

Der Staat als Pharao und der Mensch als systemintegrierte Ameise. Wer nicht reinpasst oder queruliert, wird rausgebissen oder eliminiert.

Wir dürfen uns keine Illusion darüber machen, dass wir weitgehend wehrlos dagegen stehen. Das ist aber keine Rechtfertigung dafür, die Gefangene und Verfolgten aus diesem Kontext nicht aktiv zu unterstützen. Das Gleiche gilt für die Betreiber von »Indymedia von unten«.

Wir stehen auf verlorenem Posten. Es ist kein Trost, dass wir von da aus nichts zu verlieren haben. Denn uns fehlt der politische – und damit auch perspektivisch – der räumliche Ort, zu dem wir uns hin retten könnten, um von dort aus einen neuen strategischen Gegenangriff gegen ein für alle am Ende vernichtendes Systems zu entwickeln.

 

II.

Für Clover ist der primäre Riot (er zieht hier idealtypisch die Linie Aufstand-Streik-primärer Aufstand) auf die globalen Transformationen des Kapitals seit den 1970er Jahren bezogen. Eine erste These lautet, dass der Riot Teil der globalen Zirkulationskämpfe ist, das heißt, er findet in der Zirkulationssphäre statt, die als eine soziale Organisation des Kapitals sui generis begriffen werden muss. Die Zirkulation umfasst auf rein empirischer Ebene die wachsende Bedeutung der Dienstleistungssektoren, der kommerziellen Unternehmen wie Walmart oder etwa Unternehmen wie MC Donalds und insbesondere die Ausweitung des Finanzsystems. Auf begrifflicher Ebene gilt es festzuhalten, dass im Kapital der Produktionsprozess je schon an die Zirkulation gebunden ist, i. e. die Produktion ist als eine Phase der monetären Zirkulation des Kapitals zu verstehen. Wenn das Kapitalprinzip der Motor des atmenden Monsters namens Gesamtkapital ist, dann ist die Finance dessen Zentralnervensystem.

Befindet sich das Kapital zunehmend in der Zirkulationssphäre, um die Kosten durch Kredit, Transport, Logistik etc. zu senken und gleichzeitig insgesamt die Umschlagszeiten zu beschleunigen, dann werden die Kämpfe in dieser Sphäre nicht nur für die Subalternen, sondern auch für das Kapital und die Staaten immer bedeutender. Man denke hier nicht nur an die Riots, sondern auch Aktionsformen wie Schuldenstreiks oder das Hacken. In diesem Zuge tendiert heute das Kapital immer stärker zu einer Ökonomie des logistischen Raumes, real und virtuell. Das finanzialisierte globale Shippment und die Containerisierung signalisierten diesen Wandel, wobei die just-in–time Produktion, die seit den 1970er Jahren stattfindet, den methodischen Aspekt desselben Wandels anzeigt. Diese Entwicklung geht mit dem relativen Niedergang der industriellen Produktion in den entwickelten Ländern einher, wobei die Finanzialisierung und die neuen digitalen Technologien dort zwar zu Erhöhungen der Produktivität führten, aber die Stagnation der Profitraten im industriellen Sektor nicht abwenden konnten. Die daraus resultierende Überproduktion von Waren, Kapital und Arbeitskräften zog die Produktion einer globalen Surplusbevölkerung nach sich.

Clover bezieht sich hier auf das Marx`sche Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, nach dem sich die industrielle Reservearmee und insbesondere die Surplusbevölkerung permanent an den Rändern des offiziellen Arbeitsmarktes bewegen, um zu Niedriglöhnen, Sklavenarbeiten, Teilzeitjobs und illegalen Tätigkeiten irgendwie die Reproduktion zu sichern oder in Slums vor sich hin zu vegetieren. Das globale Proletariat umfasst heute neben der lohnabhängigen Arbeiterklasse und dem Prekariat also die Surplusbevölkerung, der jeder Zugang zu den offiziellen Arbeitsmärkten untersagt bleibt, um als akkumulierte Leichenhaftigkeit zu existieren. Diese Surplusbevölkerung ist, wenn sie sich politisch artikuliert, direkt mit dem Staat und der Polizei konfrontiert.

Gleichzeitig hat sich in den entwickelten Ländern das Verhältnis der Arbeit zur Kapitalakkumulation verändert, und deswegen kann die Forderung der Linken nach kollektiven Aktionen wie dem Streik allein nicht mehr genügen. Eine neue Klassenpolitik der Linken sieht sich mit vielfältigen sozio-ökonomischen Transformationen des Kapitals auf globaler Ebene konfrontiert. In diesem Kontext steht der Riot in einem ganz bestimmten Verhältnis zum Streik: Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um a) den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, b) in der sich die Arbeiter rein in der Position des Arbeiters (nicht in der Position eines das System überwindenden Proletariers) befinden, und die c) im Kontext der kapitalistischen Produktion stattfindet, während der Riot a) den Kampf um die Preisfestsetzung an den Märkten oder den Diebstahl von Waren inkludiert, b) seine Teilnehmer enteignet sind, und c) im Kontext der Zirkulation stattfindet. Um den Aufstand zu analysieren, bedarf es also a) der exakten Definition des Aufstands und des Streiks, b) einer Begründung der Rückkehr des Aufstands seit den 1970er Jahren, und c) der Darstellung der Beziehung zwischen der Logik der (zukünftigen) Aufstände und den globalen Transformationen des Kapitals.

Die heutige Arbeiterklasse ist weitgehend im Lohn-Waren-Nexus gefangen. Kapital und Arbeit befinden sich in einer Kollaboration, um die Selbstreproduktion des Kapitals zu erhalten bzw. um die Arbeitsziehungen entlang der Verbindlichkeiten der Unternehmen zu sichern. Der traditionelle Marxismus, der die produktive Arbeit als ein transhistorische Kraft der sozialen Konstitution behandelt, hat nun endgültig sein Pulver verschossen. Der Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen behält zwar seine Berechtigung, aber er legitimiert immer auch das Kapital. Der Streik wird Streik, indem er von den Gewerkschaften und der traditionellen Linken gegen den Aufstand formalisiert wird. Entsprechend muss der Aufstand in Opposition seinen Inhalt in der Form finden. Aber dies bleibt paradox, denn seine Form ist die Unordnung, die nun sein Inhalt wird.

Ein Teil der globalen Bevölkerung kann also die soziale Reproduktion nicht mehr über den Lohn und den Zugang zur Fabrik sichern (zunehmend sichert sie sich jene über den Kredit, muss man hinzufügen), und in dieser Situation kann jede Ansammlung an einer Ecke, an einem öffentlichen Platz und in der Straße potenziell als ein Riot verstanden werden. Der Riot besitzt also eine notwendige Korrelation zur gegenwärtigen Struktur der Ökonomie, er ist durch das Abjekt gekennzeichnet – er erfasst insbesondere diejenigen, die von jeden Produktivitätszuwächsen der kapitalistischen Ökonomie ausgeschlossen und rassistischen Exklusionen ausgesetzt sind. Einerseits findet er sich dann mit einem unerreichbaren Ensemble von Waren konfrontiert, andererseits entdeckt er, wenn es um die Preisfestsetzung der Waren geht, dass die kapitalistische Ökonomie heute über eine planetarisches Logistik und eine kaum fassbare abstrakte Finanzindustrie verfügt. (Hier die Frage, wie eine Abstraktion besetzen?) Nur die Polizei kann an jeder Ecke gesichtet werden. Durchtrainierte und militarisierte Einsatzgruppen, zur Gewaltanwendung konditioniert wie andere zur Fließbandarbeit, beherrschen heute bei Demonstrationen den im öffentlichen Raum materialisierten Staat in einem Maße, dass jeder dort artikulierte politische Dissens von vorneherein nur den Charakter des Geduldeten und der Absurdität besitzt.

Die Plünderung und weitere Aktionen der Destruktion, sind also als eine implizite Antwort auf die Logiken des Marktes und des Staates zu verstehen. Die Taktiken der Riots umfassen Barrikaden (Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols und des öffentlichen Raumes), Plünderungen (Umverteilung des allgemeinen Reichtums, in den 1970er Jahren hieß das beispielsweise in Italien noch proletarischer Einkauf) und Sachschäden (Eigentumskritik); verweisen die Riots auf keine explizite Strategie, so bringen sie doch eine politische Artikulation ins Spiel, und zwar als Negation, zum Teil als eine Inversion der Arbeitermacht, die früher auf der Teilnahme am ökonomischen Surplus beruhte, aber heute vollkommen in die Defensive geraten ist, insofern die Erhaltung der eigenen Reproduktion der Arbeiter oft mit der Stabilisierung des Erfolgs des eigenen Unternehmens einhergeht. (Taktiken müssen immer mit einer bereits vorgegebenen Raum- und Zeitordnung rechnen und deren jeweilige Lücken, Unwägbarkeiten und Inkonsistenzen auszunützen versuchen) Meistens verfügt der Riot über eine Forderung, sondern scheinbar nur die negative Sprache des Vandalismus, der Zerstörung und des Planlosen. Aber dennoch mangelt es ihm nicht an Determination; Clover spricht von der Überdeterminierung des Aufstands durch historische Transformationen, die den Antagonismus, im speziellen die Kämpfe in der Zirkulation, notwendig machen. Die neuen Aufstände in der Zirkulation müssen nicht unbedingt von Arbeitern getragen werden, denn im Prinzip kann jeder einen Marktplatz befreien, eine Straße schließen oder einen Hafen besetzen. Die Aufständischen mögen Arbeiter sein, aber sie fungieren hier nicht als Arbeiter, denn die Beteiligten der Aufstände werden hier nicht durch ihre Jobs, sondern in ihrer Funktion als Enteignete innerhalb der gesamten sozialen Reproduktionsprozesse im Kapitalismus unifiziert.

Gewöhnlich wird der Riot, was das Politische angeht, im Kontext von Deprivation, Mangel und Defizit begriffen, während er doch in sich selbst das gelebte Moment des Surplus anzeigt, Surplus-Gefahr, Surplus-Instrumente und Surplus-Affekte, ja die Überschreitung selbst. Der wichtigste Surplus ist die Bevölkerung, das Moment, an dem sie das polizeiliche Management der Situation sprengt und sich vom alltäglichen Leben des 24/7 Kapitalismus in gewisser Weise entkoppelt. Henry Lefevbre hat früh erkannt, dass das Alltägliche zu flüchtig ist, um als Feld von Gegenaktivitäten zu den Regeln und Institutionen des Staates, den Arbeits- und Konsumtionsweisen des Kapitals, die ständig in den Alltag einsickern, auf Dauer denkbar zu sein, vielmehr werden die im Alltag existierenden Lücken, Zeiten und Räume heute beständig kontrolliert oder gar eliminiert bzw. im Sinne einer umfassenden Finanzialisierung (Schulden) der Lebensweisen strukturiert. Das Entscheidende der 24/7-Metrik liegt nicht in der Standardisierung der Lebensweisen, sondern in der Redundanz einer Un-Zeit, in der es keine Gelegenheit mehr gibt, nicht zu shoppen, zu konsumieren, zu arbeiten oder Daten abzurufen und insbesondere nicht als Risikosubjekt zu agieren. Das so motivierte Subjekt will nichts weiter als sich selbst verwerten, gewinnen und ins Koma glotzen, eingespannt in ubiquitäre Quantifizierungs- und Kontrollmechanismen, die seine Überflüssigkeit perpetuieren. Die algorithmische Governance ist heute ubiquitär, unsichtbar und in dezentralisierten Netzwerken materialisiert, die Macht ist heute Teil einer interaktiven Umgebung, in der wir leben.

Der Riot ist damit auch als eine spontane Artikulation gegen diese Strukturierung des Alltags zu verstehen, die Lefebvre Anfechtung nennt, das heißt die absolute, globale Ablehnung der alltäglichen, der erahnten und erfahrenen Demütigungen, und diese Anfechtung ist für ihn eine im Negativen und in der Verneinung geborene Bewegung, eine Subtraktion, eine Unterbrechung der Legitimität und der hegemonialen Kommunikation; die Anfechtung verweist auf das Unwahrscheinliche. Man müsste hier nun genauer das Zusammenspiel von Negation und Surplus untersuchen.

Dabei ist die Spontaneität als ein Ereignis, das dem Institutionellen entgeht, zu verstehen, sie ist konstitutiv für den Widerstand und infolgedessen ist die Spontaneität der Feind jeder Macht. Ich weise nur darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeitskalküle der heutigen Ökonomie und Macht gegen die spontane Wahrscheinlichkeit konstruiert wurden. Riots sind zugleich Kämpfe um die Kontrolle und um die Durchgänge durch den Raum; sie sind um Gebäude, Passagen, Straßen und Plätze organisiert. Es sind diese nicht-institutionalisierten urbanen Räume, die auf die politische Leere in den Räumen der staatlichen Apparate verweisen. Es gibt also etwas Urbanes in den Aufständen, etwas Architektonisches, um nicht zu sagen etwa Räumliches. Die Barrikade, eines der wichtigen Instrumente der Riots, hatte ihren Ursprung in der Abschottung der Nachbarschaften gegen die feindliche Angriffe der Polizei, bis die breiten Boulevards und das industrielle Wachstum diesem Instrument erst einmal eine Ende bereiteten.

Für Clover beinhaltet der Riot die Krise, auch diejenige einer Community oder einer Stadt, einer Stunde oder die von Tagen. Der Aufstand dokumentiert zwar nicht unbedingt die Zusammenkunft von häretisch-kritischem Diskurs und objektiver Krise, die sich dann etwa in einem revolutionären Programm äußert, das den Common Sense aufbrechen will, um das Unbenennbare zu benennen, er stellt keinen Übergang von der praktischen zur instituierten Gruppe dar, die sich als die Repräsentanz der Klasse begreift, obgleich er für einen gewissen Moment radikal mit dem Konsens bricht, oder, um es in den Worten von Stuart Hall auszudrücken, Aufstände sind ein Modus, durch den der Klassenkampf gelebt wird. Er steht, wie auch Hamburg gezeigt hat, in Relation zur politischen Dringlichkeit der Unterbrechung und der Blockaden, insofern die globalen Wertschöpfungsketten und die globalen logistischen Netzwerke auf die Containerisierung und den beschleunigten Transport von Waren angewiesen sind.

Dabei verdunkelt die Gleichsetzung des Aufstands mit Gewalt die systemisch-strukturelle, die alltägliche und staatliche Gewalt, die für die Mehrheit der Bevölkerung die Norm ist; schon die doppelte Freiheit des Lohnarbeiters – frei von den Produktionsmitteln und frei in der Wahl, seine Arbeitskraft zu vermieten – integriert eine latente Gewalt in das System der Lohnarbeit, wobei die zahlreichen Formen der entgrenzten Ausbeutung (Landnahmen, die Aneignung von billiger Arbeitskraft, Energie, Rohstoffen und Lebensmitteln, Rassismus und Neokolonialismus usw.) schon direkter auf die Gewaltverhältnisse verweisen. Es müssten hier im Sinne von Felix Guattari die differenziellen Freiheitskoeffizienten des Staates, der Machtsysteme und der Ökonomie untersucht werden, mit denen sich die Gewaltverhältnisse mal mehr und mal weniger anzeigen. Der Staat eignet sich in langen qualvollen Konzentrationsprozessen, die von militärischer Macht und dem Steuerwesen ausgehen, exakt das daraus entstehende Kapital physischer Gewalt an, das heißt der Konzentrationsprozess ist gleichzeitig ein Separatíonsprozess (er enteignet die Bevölkerung von der Macht und dem Denken); das staatliche Gewaltmonopol, das allerdings ohne die Aneignung des symbolischen Kapitals durch den Staat nicht auskommen kann, bildet sich also auf Grundlage von historischen Enteignungen. Der Staat wurde sozusagen in einem langen Staatsstreich hervorgebracht, der ein für alle mal etabliert, dass es einen einzigen legitimen und dominanten Standpunkt gibt, der den Maßstab aller anderen Standpunkte bildet. Die herrschenden Diskurse über die Gewalt zeichnen sich gerade durch die Abstraktion von der staatlichen und der strukturell–ökonomischen Gewalt aus, und der zweite strukturelle Gewaltaspekt besteht dann darin, dass die strukturelle Gewalt sozusagen normalisiert werden soll. Die staatliche Gewalt besitzt einen latenten und einen offenen Aspekt. Der Staat und die Macht können sich meistens mit latenter Gewalt begnügen, das heißt die offene Gewalt wird in Reserve gehalten. Wer ständig auf militärische Mittel zurückgreift ist nach Machiavelli nicht auf der Höhe des Begriffs der absoluten Politik.

Für Bataille kommt mit der Gegengewalt das Moment der Transgression, der Verschwendung und der Grausamkeit ins Spiel. Der Riot scheint nichts zu erhalten oder zu affirmieren, vielleicht einen geteilten Antagonismus, eine geteiltes Elend und eine geteilte Negation. Er ist keine Forderung, sondern ein Bürgerkrieg, schlussfolgert Clover im Gleichklang mit Tiqqun. Einerseits muss der Aufstand sich absolut setzen, um eine Reproduktion jenseits des Lohns und des Marktplatzes und um eine Bewegung hin zur Commune, die vom Bürgerkrieg nicht zu trennen ist, zu finden; andererseits ist er ständig mit der Polizeigewalt konfrontiert, die solch eine Absolutsetzung zu blockieren versucht. Wie der Hafen der Ort des frühen Aufstands war, so sind die Plätze und die Straßen heute die Orte des primären Aufstands. (Man denke hier an die Aneignung des öffentlichen Raums am Freitag in Hamburg, die dafür sorgte, dass die Polizei teilweise die Kontrolle über das Schanzenviertel verlor. Autonome, Schwarzer Block, Jugendliche aller Coleurs, G20-Gegner, Anwohner und Partypeople trafen in der Nacht aufeinander – und auf die Polizei.)

Und noch ein Wort zum Schwarzen Block: Das Unsichtbare Komitee schreibt: »Hüten wir uns also davor, es als den endlich erbrachten Beweis unserer Radikalität anzusehen, wenn völlig blinde Repression über uns hereinbricht. Glauben wir nicht, man versuche, uns zu zerstören. Gehen wir eher von der Hypothese aus, dass man versucht, uns hervorzubringen. Uns als politisches Subjekt, als ›Anarchisten‹, als ›Schwarzen Block‹, als ›Systemgegner‹ hervorzubringen, uns aus der allgemeinen Bevölkerung herauszulösen, indem uns eine politische Identität verpasst wird.« Wenn Jugendliche sich wie in Hamburg gegen das zur Wehr setzen, was sie im System alltäglich an subjektiver und struktureller Gewalt erleiden, dann sind die Aufständischen anscheinend doch mehr als nur Akteure des Schwarzen Blocks. Vielleicht wäre es dann besser zu sagen, dass wir nicht der schwarze Block sind, sodass der Schwarze Block immer auch gewesen sein wird. Damit stellen wir den schwarzen Block einerseits heraus und dominieren damit für einen Moment die Bilderpolitik der Medien, andererseits bleiben wir im Unwahrnehmbaren. Letzteres ist auf die Unterscheidung zwischen ontologischer Unwahrnehmbarkeit (die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind) und politischer Unwahrnehmbarkeit (die Nacht, in der alle Demonstranten gleich aussehen) zu beziehen. Bezüglich der ersteren Unwahrnehmbarkeit finden wir uns im Angesicht der reinen Unmittelbarkeit deaktiviert. In der letzteren Situation finden wir uns aktiviert, die Konfrontation gegen den vom Kapital durchgesetzten täglichen Rhythmus und seinen Staatsapparat der Vereinnahmung aufzunehmen.

Auf der Gegenseite gab es in Hamburg die Exekutive des Staates, der Stadt und die Einsatzleitung der Polizei, die sich über Grundrechte hinwegsetzte, Gerichte und die Pressefreiheit missachtete. Die Polizei versuchte in Hamburg einen Staat im Staat zu bilden, indem sie selbst kurzfristig außerordentliche Exekutivfunktionen übernahm, die über die Kontrolle und Besetzung des öffentlichen Raumes weit hinausgingen. Der Polizeiapparat ist inzwischen technologisch hochgerüstet und verschmilzt nach und nach mit militärischen Einheiten; mittels zum Teil militärischer Technologien wurde in Hamburg nicht nur versucht, die Kontrolle über die Plätze und Straßen zu sichern und Demonstrationen einzuhegen oder zu verhindern, sondern der Polizeiapparat war mit seinen Einsätzen wie bei der „Welcome to Hell“ Demonstration direkt auf die physische Verletzung der Demonstranten aus oder nahm diese zumindest in Kauf. Die wichtigste Aufgabe der Polizei besteht keineswegs darin, den Bürgern zu helfen und sie zu beschützen, wenn sie in Gefahr sind, sondern vielmehr darin, sowohl das ökonomische System auf nationaler Ebene zu sichern, zu verteidigen und aufrechtzuerhalten als auch diejenigen in die Illegalität zu drängen, die sich außerhalb des offiziellen Arbeitsmarktes und des Systems der Lohnarbeit befinden.

Die Aufgaben und Aktionen der Polizei entspringen also weniger der Spontaneität sozialer Relationen als der Rigidität der staatlichen Funktionen. Essenziell ist für die Polizei das Gesetz und die Organisation einer Ordnung von Körpern, welche die Allokation dessen definiert, wie etwas getan und gesagt werden kann, wie das soziale Sein ist, eine Ordnung des Sagbaren und des Sichtbaren, die dafür sorgt, dass eine partikuläre Aktivität sichtbar und eine andere es nicht ist, dass eine Rede als Diskurs und eine andere als Noise gilt. Die Polizei ist weniger um die Disziplin der Körper bemüht, sondern sie organisiert die Regeln, wie die Körper erscheinen, nämlich als eine Konfiguration der Besetzungen und der Eigenschaften von Räumen, wo diese Besetzungen und Positionen verteilt werden. Militär und Polizei sind disziplinierte und disziplinierende, symbolische und zentralisierte Gruppierungen/Institutionen, die beauftragt sind, die Ordnung zu garantieren, nach außen die Armee, nach innen die Polizei, eine Ausdifferenzierung, die heute teilweise wieder aufgehoben wird. Polizeieinsätze wie in Hamburg sind also nur Teil der Story. Es sollte aber offensichtlich sein, dass jeder, der sich während des G 20 Gipfels auf den Straßen Hamburgs befand, aus der Sicht der Polizei ein potenzieller Krimineller war. Das Training der Polizei, ihre Taktiken und Technologien, ihr organisatorisches Modell und ihre Ideologie, all dies ist längst militarisiert und in erster Linie gegen die Linken ausgerichtet. Aus diesem Grund sollten wir keinesfalls dem Diskurs des guten versus des schlechten Demonstranten folgen, da in Hamburg potenziell jeder zu den schlechten Demonstranten gehörte. Und nach den gewalttätigen Einsätzen der Polizei folgten Wochen der kontinuierlichen Überwachung, der Infiltration und Verleumdungen in den Medien, der Schikanen und der Drangsalierungen, das Indymedia Verbot und absurde Haftstrafen., über die es auch zu sprechen gilt.

 

III.

Kritisiert wurde der Freitagabend nicht nur von den politischen Eliten und ihrem Medienpersonal, sondern auch von der Mehrheitslinken, die in diesem Fall von ihren parlamentarischen Parteien bis zu den Strömungen der radikalen Linken reicht, die sich auf Mehrheitspositionen ausrichten. Das Recht der mehrheitslinken Kritik ist schon im Namen angezeigt: Sie sammelt die Mehrheit der Linken, und sie sammelt die Linken, die sich strategisch und programmatisch auf die Mehrheit der Gesellschaft beziehen. Und tatsächlich sollte die Linke möglichst groß und möglichst stark sein, auch zahlenmäßig, und sie sollte sich strategisch und programmatisch auf die Mehrheit der Gesellschaft beziehen, weil die Veränderung dieser Gesellschaft nur dann die Selbstveränderung der Gesellschaft sein wird. Wozu eine Linke fähig ist, die sich gegen die Gesellschaft stellt und sich gegen die Gesellschaft durchsetzen will, davon haben wir im 20. Jahrhundert wirklich und ein für alle Mal genug gesehen.

Dies gilt umso mehr, seit wir alle davon ausgehen, dass der gesellschaftliche Zusammenhang sich eben nicht zuerst über Zwang reproduziert, sondern über Verhältnisse der Hegemonie, die immer auch solche des sittlichen bzw. gouvernementalen Zusammenhangs von Regierung der Gesellschaft und Selbstregierung der Einzelnen sind – alles in allem also wiederum Verhältnisse, in denen die Mehrheit, deshalb heißt sie so, den Ton angibt.

Dazu gehört und dem entspricht, dass Gesellschaftskritik stets immanente Kritik sein sollte, Kritik, die von innen ansetzt, die im Trend der gesellschaftlichen Entwicklung liegt – dort ansetzt, wo dieser Trend, wie gebrochen auch immer, von sich aus schon nach links weist. Andernfalls ist und bleibt Kritik „abstrakt“, und „abstrakt“ ist das Schimpfwort, vor dem jeder und jede panisch auf der Flucht ist, das niemand auf sich sitzen lassen will: sei doch endlich mal „ganz konkret“, entwickele Deine Kritik immanent. All‘ das ist gegen die Freitagnacht und gegen den riot ins Feld geführt worden, und das zu Recht. Punkt.

Und trotzdem. So richtig sie ist: auch die mehrheitslinke Position hat wie jede Position ihren blinden Fleck. Sie sieht eben nicht, was sie nicht sieht und sie sieht nicht, dass sie überhaupt etwas nicht sieht. Will man das Nichtgesehene der mehrheitslinken (und damit natürlich auch der mehrheitsgesellschaftlichen) Kritik sichtbar zu machen, muss man drastisch werden – auch das bringen Mehrheitsverhältnisse so mit sich. Ich zitiere deshalb, im dialektischen Gegenzug, den berüchtigsten Satz André Bretons, niedergeschrieben 1930, im Zweiten Manifest des Surrealismus:

„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.“ (André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus. In: Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1977: 56).

Dieser Satz bringt den Unterschied zum Ausdruck, um den es am Freitagabend gegangen ist und um den es in jedem riot geht: Es gibt die Reform, die Revolution und die Reformation der Gesellschaft, und sie zielen je auf ihre Weise auf die Veränderung der Gesellschaft zugunsten einer anderen Gesellschaft. Und es gibt die Revolte, die, radikal verstanden, immer Revolte gegen die Gesellschaft ist – nicht zugunsten einer anderen Gesellschaft, sondern gegen Gesellschaft überhaupt, auch gegen sich selbst als gesellschaftliches Subjekt. Die Revolte widersetzt sich der Gesellschaft, sofern sie überhaupt ein Zwangsverhältnis ist, und jede wirkliche wie jede mögliche Gesellschaft – Gesellschaft überhaupt – ist und wird ein Zwangsverhältnis sein.

Die Revolte wird deshalb per definitionem immer Sache einer Minderheit sein, damit auch die Sache einer Minderheitslinken – so sehr, dass französische und griechische Anarchist*innen es vorziehen, sich gar nicht als Linke zu verstehen: „Deshalb würde ich im Extremfall“, schreibt Daniel Giraud, ein anderer Denker-Dichter des riots, „einen verzweifelten Faschisten einem zufriedenen Anarchisten vorziehen“. Wohlgemerkt: im Extremfall! (Daniel Giraud, Vorspiel zur Apokalypse. In: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd. 2, Berlin 1975: 242)

Die Revolte ist deshalb auch niemals konkret, sie stellt deshalb auch niemals eine pragmatisch begründete Forderung – sie will, wie Che Guevara richtig sah, das Unmögliche und ist so verstanden immer abstrakt – im eigentlichen Sinn des Wortes: vom lateinischen abstractus kommend, abgezogen, weggezogen, und von abstrahere, abziehen, wegziehen, entfernen, trennen. Wer revoltiert, der oder die zieht sich ab, zieht sich weg, der oder die entfernt und trennt sich von den anderen, von der Mehrheit wie von der Mehrheitslinken. Wer im radikalen Sinn des Begriffs wie der Sache revoltiert, vollzieht, was man gemeinhin „abstrakte Negation“ nennt und in der Regel als solche auch ablehnt. Wer revoltiert, kommuniziert nicht mehr, redet nicht mehr mit, steigt aus der Gabe und Gegengabe von Argumenten aus und beugt sich nicht länger der „Einsicht in die Notwendigkeit“ – und sei sie noch so gut begründet. Wer revoltiert, behauptet die Freiheit gerade in ihrem Gegensatz zu allem Notwendigen und zu jeder Einsicht ins Notwendige: er oder sie behauptet die Freiheit gerade als das Andere zum Notwendigen, als das, was jedes Ziel und jeden Zweck außer Kraft setzt und insofern Ziel und Zweck an sich selbst ist.

Politisch aber, daran hängt hier alles, bleibt das trotzdem Kommunikation: die Revolte ist, gerade im Bruch der Kommunikation, ein kommunikativer Akt: sie kommuniziert das Nichtkommunizierbare.

Die minderheitslinke Revolte und ihre mehrheitslinke Kritik stehen zueinander im Verhältnis eines Widerspruchs, der nicht zu vermitteln ist. Gerade als solche fordern sie zu einer Dialektik heraus, in der das Dritte zu den beiden Gegensätzen nicht deren teigige Vermischung sein kann, sondern das Andere zu beiden, das Neue und Unvorhergesehene, in dem die ursprünglichen Gegensätze zugrundegehen (zurück in ihren Grund gehen). Weil das so ist, ist der riot auch nicht in dem kontrolliert entgrenzten zivilen Ungehorsam „aufzuheben“, in dem die radikalen Strömungen der Mehrheitslinken ihm gelegentlich sehr nah kommen können: jeder zivile Ungehorsam – deshalb heißt er so (lat. cives, die Bürger*innen) – bleibt trotz allem eine Artikulation der Mehrheitslinken und gehört damit zuletzt der Mehrheitsgesellschaft an. Nicht zufällig kann man diese Differenz an den Kleinwagen sichtbar machen, die am Freitagabend abgefackelt wurden – das Moment, das die Mehrheitslinken am meisten empört hat: Was aus mehrheitslinker Sicht zu recht eben nicht zu rechtfertigen ist, bleibt aus der Position der Revoltierenden schon deshalb geboten, weil Kleinwagen nichts als die Gratifikation bilden, die den Subalternen fürs Dazugehören zugesprochen wird: Sie stellen derart kein bloß kontingentes, sondern ein essenzielles Symptom der freiwilligen Knechtschaft dar, mit der die Revolte bricht.

Allerdings: Wenn es einen Fortschritt der Linken des 21. über die des 20. Jahrhunderts gibt, dann verdichtet er sich im Verhältnis der moderat-mehrheitsgesellschaftlichen und der radikal-minderheitsgesellschaftlichen Linken zueinander. Da, wo dieses Verhältnis trotz des ihm einbeschriebenen, nicht zu vermittelnden Widerspruchs zu einem beiderseits bejahten Verhältnis wird, gibt es keine letzte Kritik, die die Gegenseite letztlich zum Schweigen, d.h. auf Linie bringt. Stattdessen liegt der Sinn von Kritik und Gegenkritik in der Herausforderung jeder der beiden Seiten zur Selbstkritik. Das impliziert dann kein Geben und Nehmen beider Seiten, sondern wird ganz einseitig und insofern asymmetrisch sein. Im Fall des riots ist es so, dass der riot, auch wenn den Aufständischen das im Augenblick zu Recht ganz egal ist, die Mehrheitslinke über ihre Grenze und damit über ihre Unwahrheit aufklärt: eben die Linke zu sein, die sich durch sich selbst auf die Anerkennung durch die Mehrheit ausrichtet. Das ist dann zwar demokratisch, doch nur bedingt emanzipatorisch, weil an den Bestand selbst eines Mehrheitsverhältnisses gebunden, d.h. an die Unterdrückung der Minderheit, so klein und irrelevant sie auch sei. Es liegt an der Mehrheitslinken, diese Einsicht anzunehmen – und für sich selbst produktiv zu machen: zu verstehen, dass die Befreiung der Mehrheit, so legitim und weitreichend sie auch sein mag, nie die Befreiung aller sein wird. Die Mehrheitslinke verstünde dann, dass noch die befreiteste Gesellschaft ein Zwangsverhältnis sein wird, weil Gesellschaft als solche ein Zwangsverhältnis ist.

Natürlich geht es auch um eine Selbstkritik der Revolte. Sie liegt zunächst einmal darin, sich über sich selbst klar zu werden. Gelingt das, kann die Revolte ihren Unterschied zur bloßen Gewalt – und zur fundamentalistischen Gewalt verstehen. Es sind in Hamburg Dinge passiert, die bloße Gewalt waren: das Zusammenschlagen eines Betrunkenen durch zwei Militante, die in diesem Augenblick nichts anderes als Bullengewalt verübt haben: mit eben dem Genuss am Zuschlagen, den wir an vielen Bullen wahrnehmen. Ihren Unterschied zur fundamentalistischen Gewalt versteht die Revolte dann, wenn sie sich selbstkritisch vergegenwärtigt, dass sie zwar ein strategisches Moment aller Kämpfe bleiben wird, doch nie zu deren Strategie werden kann und deshalb stets die Sache eines Augenblicks bleiben muss – eines Augenblicks allerdings, der sich im gelingenden Fall nicht mehr vergisst. Versteht die Revolte, dass sie nie Strategie werden kann, versteht sie auch, dass strategisches Handeln von links immer mehrheitslinkes Handeln sein wird – und deshalb auch so angegangen werden muss.

Letzte Anmerkung: Der Sinn der Revolte ist nicht und niemals aufs konkrete Ansinnen der empirisch Revoltierenden zu reduzieren. Deshalb kann das, was im Schanzenviertel geschehen ist, nicht durch den Nachweis kleingeredet werden, dass manche der aktiv Beteiligten gar nicht auf der Höhe des Ereignisses waren. Was für ein Gemälde oder ein Gedicht gilt – nicht auf das verrechnet werden zu können, was die Malerin oder Dichterin „sagen wollen“ – gilt auch für die militante Aktion: sofern sie Akt der Revolte, und nicht Taktik der Mehrheitslinken ist. Dem entspricht, dass die Aktion ihre Selbstkritik in sich trägt: im Unterschied zum Beispiel zwischen denen, die ihre Flachbildschirme ins Feuer warfen, und denen, die sie nach Hause geschleppt haben. Letztere bezogen den radikalsten Posten der Mehrheitslinken, erstere kommunizierten das Nichtkommunizierbare: das nie zu bestreitende Recht der Furie des Verschwindens.

 

Dellwo, Szepanski, Seibert.