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Die letzte Generation. Keine Rettung in Sicht. taz 12.11.2022

Artikel nach Anfrage der taz zur »Die letzte Generation« taz.am Wochenende 12.11.2022, Politik S. 7. Die Überschrift des Artikels ist von der taz, der Text ist von mir.
https://taz.de/Archiv-Suche/!5891843&s=Dellwo&SuchRahmen=Print/

Keine Rettung in Sicht. Wer die Welt von heute betrachtet, muss unweigerlich depressiv werden oder zynisch. Es dominiert die überall erkennbare Verachtung und Missachtung des Menschen. Wir leben in Gesellschaften, die vorwiegend herrschaftlich strukturiert sind und in ihren zentralen Bereichen dem Diktat von Befehl und Gehorsam folgen. Alles ist grundiert von Kriterien, die die Verwertung des Lebens für eine tote Sache verfolgen, so effizient wie gnadenlos. Mit dem Ausdehnen der ökonomischen Verwertung auf alle Lebensbereiche ist der Befehl des Mitmachens längst zum inneren Trieb des Einzelnen geworden. Pasolini erfasste das ab Mitte der sechziger Jahre mit seinem Begriff der »anthropologischen Mutation«[1]. Indem der Kapitalismus alle Werte überrannte und überrennt, die noch eigenständig und nicht von seiner Welt der Verwertung durchdrungen sind, löst er jedes grundsätzlich Eigene des Menschen auf. Damit war und ist die Bedingung gesetzt für jene neue Doxa von Produktion und Konsum, die längst unsere Lebensrealität bestimmt. Nie war der Mensch hoffnungsloser zum Objekt degradiert als heute.
 
Vergleiche drängen sich auf: In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard mit dem Versuch, die »formierte Gesellschaft« auszurufen. Alle Einzelinteressen sollten einem »Gemeinwohl« unterworfen werden, welches aus Sicht der Wirtschaft definiert wurde. Heute ist die »formierte Gesellschaft« längst zur bitteren Realität geworden.
 
Letzte Generation
Der Name »Letzte Generation« irritiert und ist doch zutreffend. Wenn die Menschheit ohne Dystopie überleben will, endet mit der heute lebenden Generation die alte Geschichte der Weltvernutzung. Man kann das als Epochenbruch sehen, ähnlich dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit. In diesem Bild ist die Zeitenwende, die Olaf Scholz verkündete, eine Phrase, die das Gegenteil maskiert: Die Zeitenwende, angekündigt in den tektonischen Brüche der alten Weltordnung, soll aufgehalten und dort, wo sie bereits eingetreten ist: umgedreht werden. Das Alte soll bestehen bleiben. Das Mittel dazu ist die neue Militarisierung. Bis zum Gedankenspiel eines Atomkrieges.
 
Die Gruppe »Letzte Generation« operiert seit ihrem Bestehen demonstrativ symbolisch und offenkundig mit Bedacht. Es scheint, dass sie alles unternimmt, um Schäden an dem zu verhindern, was sie als sachliches Vehikel für ihre politischen Positionen nutzt. Warum arbeiten sich so viele mit schlechten Argumenten an ihnen ab? Claudia Roth führt das lächerliche Argument ein, dass wegen dieser Gruppe die Kunst in Tresore verschwinden könnte.[2] Im Angriff auf die letztlich kleinen Aktionen der Letzten Generation tritt auch zu Tage: Die, die Macht haben, möchten auch die Moral des Widerstands besitzen.
 
Das symbolisch Alarmierende der Gruppe lässt sich als Versuch deuten, die allumfassende Ohnmacht der Gesellschaft gegenüber den Bedingungen, mit denen sie sich tagtäglich festigt und reproduziert, zu durchbrechen. Seit über 50 Jahren weiß jeder politisch Verantwortliche, dass das Konzept der Verwertung der Welt und die Strategie des ewigen Wachstum in eine globale Destruktion kippt. Wesentliches getan wurde nichts, es hat die meisten einfach nicht interessiert. Das ferne Desaster wird getoppt vom unmittelbaren Interesse nach Fortsetzung des Bestehenden. Alle Versprechen, gegen die in Gang gesetzt Zerstörung vorzugehen, blieben rhetorisch. Das System setzt auf integrative Verdauung des Protestes und kennt hier seinen Erfolg.
 
Politik ohne Politik
 
In ihrer Analyse hat die Gruppe »Letzte Generation« natürlich recht: Politik in dem Sinn, dass sie die Dinge der Gesellschaft im Interesse der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit regelt, existiert nicht. Die Reaktionen auf die »Letzte Generation«, die in der üblichen Eintracht zwischen der politischen Kaste und ihren Medien auftritt, ist nicht weiter überraschend. Manche reagieren auf diese Gruppe so, als stünde ein neuer bewaffneter Kampf vor der Tür. Die Hysterie ist ein bewährtes Mittel der Diskursverschiebung. Tiefenpsychologisch könnte man denken: Die, die die Macht haben, erwarten offenkundig eine Abstrafung. Sie wissen selbst, ihr »grüner Kapitalismus« ist eine Schimäre. Alle wissen: Sie werden gar nichts ändern. Es wird so weitergehen wie bisher. Manche wollen auch definitiv nichts anderes, weil ihr Interesse mit dem des Kapitals identisch ist. Der Bezug auf die RAF hat aber noch eine andere Seite: Sie enthält die Ankündigung, ggf. alles einzusetzen und über jede Grenze zu gehen, wenn die Politik der Gruppe Letzte Generation eine reale Machtfrage aufwerfen würde.
 
Vereint ist die politische Klasse im gleichen Blick auf die Gesellschaft. Für ihre Handlungsorientierung des »Weitermachens« hat die Gesellschaft zu funktionieren. Das Verlangen der politischen Kaste ist simpel und orientiert sich an der Betriebsführung: Die im Betrieb Eingebundenen haben den Zustand ihrer Verwaltung zu akzeptieren. Belohnt werden sie mit Konsum und Scheinfreiheiten – und, wenn es gerade kriselt, mit der Geste des »großen Wumms«, der Abfederung ihrer neuen ökonomischen Nöte von oben, die aber auch nichts anderes ist, als die Lasten der Masse für die Zukunft zu steigern.
 
Wo Protest und Widerstand die ihnen zugedachten dekorativen Rollen verlassen, wird von offizieller und medialer Seite mit Verlogenheit und Instrumentalisierung zurückgeschossen. Nach dem parallelen Tod einer Radfahrerin zu einer Aktion der »Letzten Generation« in Berlin wird diese dafür verantwortlich gemacht. Zu Ende gedacht, dürfen Demonstrationen und Proteste in Zukunft nur noch auf der entfernten Wiese durchgeführt werden. Bis zum Jahresende 2022 werden etwa 400[3] Radfahrer im Straßenverkehr ums Leben gekommen sein. Das war bis jetzt kein gesellschaftlicher Aufreger, das gehört zur Normalität und wird de facto achselzuckend hingenommen. In diesen Fällen bleibt jeder Tote ein individueller Schicksalsschlag, mit dem die Angehörigen zurechtkommen müssen. Die Instrumentalisierung der toten Radfahrerin gegen die »Letzte Generation« verweist nur auf die Hemmungslosigkeit der Ausbeutung und die Umkehrung dessen, was in Wahrheit verantwortlich für alle Verkehrstoten ist.
 
Das Nicht-Integrierbare
 
»Meiner Meinung nach bleibt im Kunstschaffen immer ein bestimmter Raum übrig, der ›nicht integrierbar‹ ist«. (Pier Paolo Pasolini)[4]
 
Die »Letzte Generation« nutzt auch die Kunst als Vehikel ihrer Botschaft. Hinter den Attacken auf die »Letzte Generation« steht auch der eliminierende Wunsch gegenüber dem grundsätzlich Anderen, das in den bestehenden Verhältnissen nicht integrierbar ist. Die Folgen davon liegen auf der Hand: Ohne dieses Nicht-Integrierbare herrscht nur die Fatalität des Gegebenen, aus der es dann einfach ist, die daraus entwickelten Schlussfolgerungen als »Alternativlos« darzustellen. Das kennen wir seit Jahrzehnten. Die Welt der Verwertung gilt als alternativlos. Das Nicht-Integrierbare im eigenen Raum jedoch stört den Frieden des Falschen. Es ist deshalb das, was von allen, die Machtpositionen innehaben, gehasst wird. Es ist aber auch das, was am Ende die Vernichtung auf sich zieht. Und doch ist es Unverzichtbar.
 


[1] Pier Paolo Pasolini, Gespräch mit Gideon Bachmann, September 1974, hier aus: PASOLINI-BACHMANN, Gespräche 1963-1975, Hrsg: Gabriella Angheleddu/ Fabien Vitali, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2022, Vol. 1, siehe Gespräch IV, Januar 1965, S. 96
[2] Vgl. ZDF-Morgenmagazin, Interview der Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth durch Dunja Hayali. Bemerkenswert auch, wie Hayali in ihren Fragen schon die Antworten mitgibt. Abrufbar unter den entsprechenden Stichworten bis zum 02.11.2024.
[3] Vergl. https://de.statista.com/
[4] Pier Paolo Pasolini, Gespräch mit Gideon Bachmann, September 1974, hier aus: PASOLINI-BACHMANN, Gespräche 1963-1975, Hrsg: Gabriella Angheleddu/ Fabien Vitali, Galerie der abseitigen Künste, Hamburg 2022, Vol. 1, S. 165