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Interview Neues Deutschland

Neues Deutschland vom 18.10.2002

"Die RAF scheiterte vor 25 Jahren"
Fragen: Andreas Schug

 

ND: Vor genau 25 Jahren starben in Stammheim die
RAF-Gefangenen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader. Bis heute ist nicht sicher geklärt, ob es sich bei der »StammheimerTodesnacht« um Mord oder Selbstmord handelte. Welche Position vertreten Sie?

Dellwo: Was den sachlichen Ablauf betrifft, ist meine Position eindeutig. An eine Tat durch irgendein staatliches Geheimkommando vermag ich nicht mehr zu glauben. Bei der Diskussion darüber hinaus wird offenkundig, dass die Grenze zwischen Mord und Selbstmord in Stammheimsehr fließend ist.

Warum?

Jahrelang wurde in Stammheim alles abgehört, Anwälte, Gefangene, Besucher. Im März 77, während der Traube-Affäre*, wurde das offiziell auch eingestanden. Damals war das LKA Baden-Württemberg involviert, das Bundesamt für Verfassungsschutz installierte Wanzen in Stammheimund später auch, genehmigt vom Kanzleramtsminister Schüler, der BND. Polizei, Verfassungsschutz und Auslandsnachrichtendienst – alle waren in Stammheim. Ich kann da nur müde mit den Schultern zucken, wenn staatliche Stellen und Regierungsvertreter von damals behaupten, dass das ausgerechnet während der Schleyer-Entführung nicht fortgesetzt worden sei. Sie haben die Kommunikation unter den Gefangenen mit Sicherheit abgehört. Hinzu kommt, dass die Gefangenen gegenüber den offiziellen Kontaktpersonen damit gedroht hatten, dass die Regierung am Ende über sie nicht verfügen wird.

Sie unterstellen auch, dass die Gefangenen Waffen hatten und dass sie die auch eingesetzt haben.

Die Darstellung, dass die Gefangenen keine Bewaffnung hatten, ist definitiv falsch. Ich habe mit Leuten gesprochen, die die Waffen hineingebracht haben. Die stehen außerhalb jeden Zweifels. Und ich muss davon ausgehen, wie ich selber damals war. Unser Ziel ist gewesen, unseren Körper zur Waffe zu machen, oder, um mit Andreas Baader zu sprechen: »das Projektil sind wir!«

Aber mit einem Selbstmord hätten die Gefangenen dem Staat doch nur eine Last abgenommen, indem sie sich selbst »aus dem Weg schaffen«, oder?

Aus Sicht des Staates wäre die Ermordung der Gefangenen eine irrationale Reaktion gewesen. Nach dem glimpflichen Ausgang des Sturms auf die entführte Lufthansa-Maschine hatte der Staat sich behauptet und ein großes gesellschaftliches Bündnis hergestellt bis hin zu vorher staats- und systemfeindlichen oppositionellen Kräften. Warum das über eine irrationale Aktion sprengen, die strategisch keinen besonderen zusätzlichen Gewinn bringen konnte? Die Gefangenen hatten in dieser Konfrontation verloren. Eindeutig. Alles was sie an Bündnisstrukturen und an Akzeptanz in der Gesellschaft aufgebaut hatten, war zerstört. Statt den Riss zwischen Staat und Gesellschaft zu verbreitern, hat die RAF diesen gekittet...

Selbstmord, weil man am Ende ist?

Wir befinden uns hier in einer Extremsituation, für beide Seiten. Die hat ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Dynamik. Regierung und Opposition und Medien diskutierten damals öffentlich Vergeltungsmaßnahmen gegen die Gefangenen, bis hin zur Erschießung. Das war die Nachricht, die uns auch noch in den Zellen erreicht hat. Hier alles zu erwarten, hatte seine eigene Plausibilität. Nicht als Opfer in der Ecke zu sitzen und abzuwarten, auch.

Gab es damals vonseiten der RAF-Gefangenen Ansätze zu Deeskalation?

Am Ende hatten die Stammheimer Gefangenen noch versucht, wieder zum Politischen zurückzukommen. Ihr Angebot an die Regierung, bei Freilassung nicht mehr bewaffnet zu kämpfen und nicht in die BRD zurückzukehren, bedeutete in der Konsequenz sogar, generell den bewaffneten Kampf in Frage zu stellen. Aber es gab keinen Adressaten mehr dafür. Unter Führung von BKA-Chef Horst Herold und Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte die Regierung sich für ihren eigenen Krieg entschieden. Auch sie liefen im Militärischen zur Höchstform auf. Zu lange war von unserer Seite aus nur eskaliert worden mit dem Kalkül, den Block an der Macht zu desorganisieren. Jetzt war der point of no return überschritten. Die Leutnants aus dem Zweiten Weltkrieg wollten wenigstens einen Krieg gewinnen. Irgendeine bedeutsame Opposition dagegen gab es nicht mehr.
Vor diesem Hintergrund kann man den als Mord dargestellten Selbstmord auch anders sehen: Sie wollten nicht sterben. Sie dachten aber, sie müssen es und das wollten sie noch umdrehen. »Es gibt keine Waffe des Systems, die man nicht gegen sie umdrehen kann«. Auch das war ein Credo der Gruppe.

Innerhalb der ehemaligen RAF-Mitglieder vertreten Sie eine Minderheits-Position.


Ja, was die Frage des Todes der Stammheimer betrifft, nicht aber die Definition der Gruppenmoral. Es gab immer die Tendenz bei uns, dass du umso revolutionärer bist, je mehr du dich von deinen persönlichen Interessen abtrennen und für die Sache hingeben kannst. Das war schon bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm so und wir haben das in mehreren Hungerstreiks praktiziert. Vielleicht ist es mir letztlich lieber so, weil ich mir für die Stammheimer eine letzte Subjektivität wünsche – und die kann darin bestehen, die Entscheidung über den eigenen Tod selbst in die Hand zu nehmen. Im Laufe der Jahre habe ich mir einfach angesehen, was für die eine und was für die andere Version spricht. Die Mordthese kennzeichnet weder den Staat von damals, noch erfasst sie die RAF.

Die »Stammheimer« brachten sich um, obwohl Arbeitgeberpräsident Schleyer noch am Leben und in Geiselhaft war?

Um das Leben von Schleyer hatte die Regierung von Anfang an nur taktiert, am Ende war Schleyer nur noch eine kleine Größe für sie. In der Regierung hatte er keinen Rückhalt und seine politischen Freunde aus CDU/CSU hatten sich im »Großen Krisenstab« der Führung von Herold und Schmidt untergeordnet. Aber es war nicht nur sein Schicksal besiegelt, sondern auch das der Konfrontation zwischen RAF und Staat.

Schon 1977? Die »Illegalen« aus der RAF haben den bewaffneten Kampf doch bis in die 90er Jahre weitergeführt und erst 1998 für beendet erklärt.

Ja, aber das spricht erst einmal nur davon, dass das Bewusstsein den Zusammenbruch seiner materiellen Basis auf lange Zeit überstehen kann. Wenn es vor 1977 vielleicht noch eine Basis für einen revolutionären Kampf gab, der sich die Machtfrage zum Ziel stellte, so war das über die Konfrontation 1977 weggesprengt worden.

Hätte die RAF den Kampf dann nicht 1977 einstellen müssen?

Es gab für uns keinen Ausweg. Das ist ja ein besonderes Kennzeichen der Konfrontation: In dieser ganzen Zeit gab es nicht einmal den Versuch des Staates, zu einer politischen Lösung zu kommen. Nach den Verhaftungen 1972, als die RAF als militärische Organisation praktisch völlig zerschlagen war, dachten die Gefangenen kurz über die Möglichkeit einer Amnestie nach, verwarfen sie aber als aussichtslos. Alles, was vonseiten des Staates kam, signalisierte nur, dass jede Fundamentalopposition hier ausgelöscht wird. Begriffe wie »ausmerzen«, »tilgen« waren damals regierungsamtlicher Sprachgebrauch. Ihren offenkundigsten Ausdruck fand diese Haltung zwei Jahre später im Tod von Holger Meins während des Hungerstreiks gegen die Isolationshaft: In der Bundesrepublik verhungerte ein Gefangener und sah aus wie ein KZ-Toter. Das waren die Bilder, die einem hochkamen. Benno Ohnesorg war erschossen worden und das war, wie der Freispruch des Polizeischützen Kurras ausdrückte, »legal«. Der Tod von Holger Meins war auch »legal«. Nicht legal waren die, die den Nach-Nazi-Staat und die Völkermordstrategie in Vietnam nicht mehr ausgehalten haben.

Was war 1975 das politische Anliegen der Aktion des Kommandos Holger Meins, bei der Sie verhaftet wurden?


Wir wollten die Gefangenen befreien und quasi das Gefängnis als strategische Schranke des Systems durchbrechen. Wir dachten, es macht vielen Hoffnung und nimmt ihnen die Angst vor einer vermeintlichen Übermacht der Repression. Wir hatten die Solidarität der Kämpfenden und wollten zeigen, dass wir immer wieder einen Ausweg finden können, auch aus der Defensive heraus.

Es gab in Stockholm 4 Tote, zwei von Ihrer Gruppe erschossene Geiseln und zwei tote Kommandomitglieder – war diese Aktion legitim?

Ich kann heute diese Aktion nur noch begründen, ich will sie aber nicht mehr rechtfertigen. Ich sage heute auch eindeutig: sie war nicht legitim, sie hat primär eine brutale und dunkle Seite. Auch die, die man als Gegner oder Feinde sieht, haben ihre Rechte, die man ihnen nicht nehmen darf. Aber trotzdem gibt es gibt auch eine andere Seite: Der irreguläre bewaffnete Kampf war damals die Waffe der Schwachen und Unterdrückten. Mit ihnen solidarisierten wir uns und auch für uns war die Hoffnung auf Befreiung untrennbar mit Militanz und bewaffnetem Kampf verbunden. In vielen westeuropäischen Ländern und in den USA entstanden damals Stadtguerillagruppen. 

Der RAF wurde oft vorgeworfen: »Ihr habt gezündelt und nicht gewusst, was ihr bewirkt«? Trifft das nicht zu?

Ich glaube nicht. Die Zeit war reif für eine Revolte, nicht aber für eine revolutionäre Strategie, die die zentrale Machtfrage stellt. Unsere Triebkraft war das Bedürfnis nach Distanzierung und Verurteilung des Nazi-Regimes und seiner Verbrechen. Dessen soziale Normen von Auslese, Rassenwahn, Härte, Männlichkeit, Rollenzuweisung, reaktionärer gesellschaftlicher Konditionierung im Nationalismus prägten noch immer Kultur und Klima der Nachkriegsgesellschaft. Sah man sich weiter um, stieß man auf Vietnam und auf Militärdiktaturen in West-Europa oder Lateinamerika als Verbündete der Herrschenden hier. Das war nicht auszuhalten. Der bewaffnete Kampf dagegen war vermittelt. Gleichheit, Weltoffenheit, Internationalismus, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, offener Lebensweg, Bedürfnis nach Ausbruch und Aufbruch – das waren Bestandteile einer neuen Gegenkultur.

Aber andere »68er« entschieden sich nicht zum bewaffneten Kampf.


Die Militanz war unser Mittel, radikal von dieser alten Gesellschaft distanziert zu sein. Je weiter raus, je mehr schien man Luft zum atmen zu bekommen. Das ging vielen so. Den Trennungsstrich zum alten System haben wir als Befreiung erfahren. Wir sind aber dem falschen Leben nur kurz entkommen. Nach dem US-Rückzug aus Vietnam und mit der inneren Modernisierung der Gesellschaft verblasste für viele die Notwendigkeit des radikalen Trennungsstrichs zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir wollten nicht zurück. Damit begann unsere Isolierung. Die bewaffnete Revolutionsstrategie verlor ihre Teilakzeptanz in der Gesellschaft. Gegenüber dem Normalzustand eines kapitalistischen Systems und einer modernisierten bürgerlichen Demokratie verfügte auch die RAF über keine konkrete Antwort mehr. Der von uns noch zu organisierende Widerspruch reduzierte sich auf die Repression des Systems. Diese inhaltliche Schwäche wurde von uns militärisch substituiert. Das konnte nicht lange halten. Schließlich wurden von uns vorherige Wertsetzungen preisgegeben für taktische Erwägungen und damit delegitimiert.

Welche Wertsetzungen?


Holger Meins hat damals beispielsweise den Begriff »dem Volke dienen« benutzt. Das ist, wie ich heute finde, ein sehr ambivalenter Begriff, aber er hat etwas ausgedrückt: Wir hatten die Bevölkerung als Unterdrückte wahrgenommen – wenn auch teilweise verblendet – zu der wir uns eher in einem solidarischen und in keinem Fall in einem Feindverhältnis sahen. Die Prämisse daraus war: es gibt keine ziellosen Aktionen gegen irgendwelche Unbeteiligten, sondern es lag ein Klassenkampfgedanke zugrunde.

Bei der Schleyer-Entführung gab es fünf Tote, wo man sich fragte, ob da überhaupt noch ein Verhältnis wahrgenommen wird, zu dem, was man will. Dann kam der absolute Widerspruch zu unserer eigenen Aufbruchsgeschichte mit der Flugzeugentführung, an der die RAF und die Stammheimer mehr oder weniger direkt beteiligt waren; denn sie haben diie Aktion im grundsätzlichen gebilligt. Und das hat eigentlich gezeigt, dass es Situationen gibt, wo man sich so unter Druck sieht, dass man sagt, egal was wir früher gesagt haben, wir machen es trotzdem. Damit haben wir der eigenen Legitimität einen nicht wieder aufhebbaren Schlag versetzt.

Wurde in der RAF nicht darüber geredet, welche Konsequenzen aus Stammheim zu ziehen sind?

Im Gefängnis war das auf Jahre hinaus kaum möglich, aufgrund unserer isolierten Situation. Hier waren wir auch ständig mit unserem Überleben beschäftigt. Jahrelang haben wir um die Zusammenlegung gekämpft als Bedingung, untereinander endlich alles diskutieren zu können.

Und die »Illegalen«, außerhalb?

Dort hätte man diskutieren können, so weit ich das überhaupt beurteilen kann. Aber diese Diskussionen wurden augenscheinlich nicht geführt oder nur auf Basis einer vorweggenommenen Rechtfertigung der bisherigen Strategie.

Welche Auseinandersetzung hätten Sie sich gewünscht?

Die Prozesse hatten sich verselbständigt und diejenigen überrollt, die behaupteten, sie in der Hand zu haben. Dabei sind wir doch aufgebrochen, um die Selbstlogik der Dinge zu durchbrechen. Unter einer befreiten Gesellschaft stelle ich mir vor: Wir sind von der Zwangsläufigkeit der Prozesse befreit. Es ist etwas anderes möglich, eine andere Logik, ein anderer Blick. In der Illegalität gelang es uns nicht, die Prozesse offen zu halten. Das ist unsere Niederlage. Das Militärische hat sich verselbständigt, der Machtkampf, die Situation in der Illegalität, die Notwendigkeit, hier etwas zu machen und da etwas zu machen. Im Nachhinein gesehen gab es keine relevante Kraft in unserem Zusammenhang, die gesagt hat: »Stopp, wir gucken uns das jetzt mal an, vielleicht müssen wir alles noch einmal anders machen.“

Führen Sie die Debatte heute?

Ich diskutiere generell erst einmal mit jedem. Andere lehnen das ab und halten ein Kollektiv hoch, das sich längst in unzählige Fraktionen aufgelöst hat. Übrig bleibt nur die Sprachlosigkeit und eine blinde Wut, wenn etwas gesagt wird, was nicht ins Bild der eigenen Subjektivität passt. Ich kann dazu nur sagen: Wenn man so aufgetreten ist wie wir mit dem Anspruch, mit den alten Verhältnissen tabula rasa zu machen und neue Geschichte zu schreiben, muss man auch in der Folge dafür stehen. Vielleicht ist es bei den Einen Scham über den Verlust und die Niederlage, vielleicht auch die Angst, eine Infragestellung führe zum Verrat. Ich meine, man muss sich davon befreien. Ebenso von dem Zwang, mit einer Stimme sprechen zu müssen. Zudem hat der Blick der anderen auf uns nicht nur seine Berechtigung und muss ertragen werden, er ist hilfreich.
Ich glaube nicht, dass die RAF oder die anderen bewaffneten Gruppen vor allem zum negativen Haushalt des letzten Jahrhunderts zählen. Ich jedenfalls finde, dass der Aufbruch berechtigt war und dass von dem existenziellen Widerspruch der RAF gegen ein falsches Leben etwas Bestand haben wird.

Das hieße, dass das Kapitel RAF trotz ihrer Selbstauflösung vor vier Jahren nicht abgeschlossen ist... Es gibt auch noch immer mehrere RAF-Gefangene.

Eben das ist bis heute kennzeichnend für den Umgang mit der Fundamentalopposition der Nachkriegszeit: Einige sitzen, wie Rolf Klemens Wagner, seit 23 Jahren im Gefängnis, oder wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar seit 20 Jahren – und sollen noch auf Jahre inhaftiert bleiben. Ich frage mich: wer braucht das? Für wen müssen sie sitzen? Sie müssen raus.

*1977 wurde der Atomwissenschaftler Klaus Traube Opfer einer illegalen Lauschaktion des Verfassungsschutzes