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Bereits 1933 wußte man es

Junge Welt, 14. April 2012
»Bereits 1933 wußte man es«
Gespräch mit Lionel Richard und Karl-Heinz Dellwo. Über die Neuauflage einer antifaschistischen Dokumentation aus dem Pariser Exil. »Das deutsche Volk klagt an« eröffnete schon in der Frühphase des deutschen Faschismus Einblicke in dessen verbrecherischen Charakter.
Interview: Sebastian Carlens und Peter Wolter

Faschistische Massenhysterie – in Rüdesheim am Rhein jubeln am 27. August 1933 die Menschen dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler zu
Foto: AP


Lionel Richard (geb. 1938) ist emeritierter Professor der Universität der Picardie. Seit 1971 (»Nazismus und Literatur«) veröffentlichte er zahlreiche, in mehrere Sprachen übersetzte Werke zur deutschen Geschichte und Kultur des 20. Jahrhunderts. Zuletzt u. a.: »Nazismus und Barbarei« (2006), »Goebbels. Porträt eines Manipulateurs« (2008)

Karl-Heinz Dellwo (geb. 1952) ist Verleger und Geschäftsführer des Laika-Verlages.

Warum wird das Buch »Das deutsche Volk klagt an«, das 1936 im Pariser Exil erstmals erschien, gerade jetzt neu aufgelegt?
Karl-Heinz Dellwo: Es gibt vermutlich nur ein ähnliches Buch, das bereits in dieser frühen Zeit solch tiefe Einblicke in die Verbrechen der Nazizeit ermöglichte – dies war das »Braunbuch«. »Das deutsche Volk klagt an« mit den Berichten von Maximilian Scheer und seinen Ko-Autoren scheint mir so wichtig zu sein, weil es einen präzisen Einblick in die Struktur des Nationalsozialismus und seine Gewalttätigkeit von Beginn an gibt. Ich möchte Lionel Richard zitieren, der in seinem Vorwort schrieb: In diesem Buch ist alles angekündigt, was in den nächsten Jahren passieren sollte. Man wußte 1933 bereits, wohin die Reise gehen wird – man konnte es zumindest wissen: Die Nationalsozialisten haben das ganze Volk auf Krieg, auf Gehorsam getrimmt. Auch der Judenmord wurde als Generalbefehl angekündigt. Das halte ich bei der gesamten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für wichtig: Nicht erst nach Beginn des zweiten Weltkrieges wurden die Dimensionen der Verbrechen erkennbar – davon wußte man von Anfang an. Dies macht das Buch sehr deutlich.

Was hat Sie, Herr Richard, veranlaßt, für die deutsche Auflage ein Vorwort zu schreiben?
Lionel Richard: Ich stehe in Kontakt mit der Tochter von Maximilian Scheer, Katharina Schlieper, und ich habe eine Rezension der französischen Ausgabe für Le Monde diplomatique geschrieben. Katharina Schlieper hat mir schließlich den Vorschlag gemacht, auch für die deutsche Ausgabe ein Vorwort zu verfassen. Gerade eine Stimme aus dem Ausland erschien ihr für dieses Buch wichtig.

Es war doch so: Schon 1933 wußte man, auch in Deutschland, viel über die Methoden des Nationalsozialismus. Die Presse im Ausland hat berichtet, es gab etliche Zeitschriften und Bücher, die ganz präzise aufgelistet haben, was in Deutschland alles vorging: die Zerschlagung der Gewerkschaften, das Verbot der liberalen Presse, die antisemitischen Exzesse. All dies war bekannt; schon 1934 haben beispielsweise jüdische Exilanten in Paris ein Buch veröffentlicht, in dessen Vorwort von den Plänen der Nazis, die Juden zu ermorden, berichtet wurde. In Brüssel erschien bereits 1933 ein ähnliches Werk. Viele Juden waren sich dieser Lage auch 1933 schon bewußt. Dann kamen Berichte über die deutschen Konzentrationslager dazu, von Hans Beimler zum Beispiel, aber auch von deutschen Sozialdemokraten. »Die Prüfung« von Willi Bredel war ebenfalls eine wichtige Veröffentlichung dieser Zeit.

Welche Rolle spielten die politischen Exilanten aus Deutschland, die in Paris Zuflucht fanden?
Richard: In Paris bildete sich rasch nach 1933 eine deutsche antifaschistische Exilgemeinde. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Pariser Tätigkeit von Willi Münzenberg, der damals die Propagandatätigkeit der Kommunistischen Internationale für die westliche Welt koordinierte. Münzenberg nutzte den Verlag »Editions du Carrefour«, um antifaschistische Bücher zu veröffentlichen: die Edition verlegte die Freiheitsbibliothek, in der Militante, Emigranten und Nazigegner veröffentlichen konnten. Auch das bekannte »Braunbuch« über den Reichstagsbrand und den Naziterror wurde hier 1933 verlegt. Maximilian Scheer hat für die Edition »Das deutsche Volk klagt an« Zeitzeugenberichte zusammengestellt, gemeinsam mit zwei Mitarbeitern, Meißel und Birkenhauer. Über diese beiden Personen forschen wir noch, da ist erst wenig bekannt.

Scheer und seine Mitarbeiter haben also vor allem Berichte zusammengefaßt? Wie kamen sie an das Material?

Richard: Die Freiheitsbibliothek leistete ihnen dabei wichtige Dienste. Da dokumentierten Kommunisten, Sozialdemokraten und andere politische Gegner der Nazis, die damals noch in Deutschland lebten, die Vorgänge in ihrer Heimat: Zeitzeugenberichte, oftmals handschriftlich, die über die Grenzen geschmuggelt wurden. Da haben sich natürlich auch mal Ungenauigkeiten eingeschlichen, Erinnerungslücken, falsche Namen. Aber alles in allem haben wir es mit einer (Lionel Richard. Foto: Privat) ganz außerordentlichen Dokumentation zu tun, an der weiter geforscht werden muß.


Dellwo: Das Buch erschien damals anonym in Frankreich, weder Maximi­lian Scheer noch seine beiden Mitarbeiter wurden namentlich genannt. Der Grund war natürlich, daß man ihre Familien in Deutschland schützen wollte. Auch in anderen Fällen konnten die Informanten nicht namentlich genannt werden. Sie kamen teilweise direkt aus der Gestapo-Haft, aus den ersten »wilden« Konzentrationslagern der SA, und sie mußten geschützt werden. Viele dieser Berichte sind natürlich sehr subjektiv, die müssen historisch immer überprüft werden.

Was unterscheidet dieses Buch von den anderen Exilveröffentlichungen, dem »Braunbuch« beispielsweise?
Dellwo: Das Buch ist viel breiter angelegt als das »Braunbuch«, das ja vor allem die Brandstiftung am Reichstag und den folgenden faschistischen Propagandaprozeß gegen Dimitroff und die anderen der Brandstiftung angeklagten Kommunisten zum Inhalt hatte. »Das Deutsche Volk klagt an« berichtet viel umfassender: Kommunisten haben sich beteiligt, Sozialdemokraten, aber auch kirchliche Gruppen, verfolgte Juden. Das Buch war nicht ideologisch in irgendeine bestimmte Richtung ausgerichtet. Es ging um das gesamte Spektrum der Verbrechen, die im deutschen Reich verübt wurden.

Ich bin als Verleger erst vor ungefähr sechs Monaten auf dieses Buch gestoßen, als mich aus Frankreich der ehemalige Soziologieprofessor Helmut Reinicke darauf angesprochen hat. Da mußte ich zugeben, daß ich von dem Buch noch nie zuvor gehört hatte. Das »Braunbuch« und manche anderen Veröffentlichungen dieser Zeit sind bis heute viel bekannter. Dazu beigetragen hat sicherlich auch die Tatsache, daß es nach dem Krieg nicht wieder gedruckt wurde.

Warum wurde das Buch nach 1945 nicht neu aufgelegt?
Dellwo: Die Frage stelle ich mir auch; zumal es weder im Osten noch im Westen wieder erschienen ist. Maximilian Scheer ist später in die USA emigriert und hat dort im propagandistischen Bereich weiter gegen die Nazis gearbeitet. 1947 ist er dann zurück nach Deutschland gegangen, in die sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. In der DDR genoß er hohes Ansehen, wurde mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet. Warum sein Buch nicht wieder gedruckt wurde, darauf habe ich keine überzeugende Antwort.

Richard: Andere Veröffentlichungen aus dieser Zeit erfuhren mehrere Neuauflagen, das »Braunbuch« zum Beispiel. Vielleicht hängt es mit der ideologischen Breite des Werks zusammen, denn Protestanten, Katholiken und so weiter, alle waren in der Dokumentation als Teil des antifaschistischen Widerstandes vertreten. Und da gab es in der DDR durchaus auch eine verengte Sichtweise, nach der eigentlich nur die Kommunisten wirkliche Widerständler waren.

Dellwo: Der entschiedenste Teil des Widerstandes wurde ja auch von Kommunisten getragen.

Richard: Ja, dem stimme ich zu. Auch der größte Teil der politischen Gefangenen gleich am Anfang des »Dritten Reiches« waren Kommunisten, später dann auch Sozialdemokraten.

Welche Rolle spielte Willi Münzenberg bei der Erstellung des Buches?
Richard: Münzenberg war ein begabter Redner und ein großartiger Organisator, er selbst hat allerdings sehr wenig geschrieben. Auch an dem Buch hat er nicht direkt mitgearbeitet. Wichtiger für das Entstehen des Werkes war Münzenbergs Apparat im Exil: Über die Widerstandskomitees, das Komitee zur Befreiung von Ernst Thälmann zum Beispiel, wurden Beziehungen zu Emigranten und zu Widerstandskämpfern aufgebaut. Diese Komitees zur Hilfe der von den Nationalsozialisten Verfolgten wurden von Franzosen geleitet, sie haben viel Material gesammelt und etliche Broschüren veröffentlicht. Das alles wurde von Leuten aus Münzenbergs Umgebung beobachtet, die dort mitarbeiteten.

Die Buchveröffentlichung war also ein Projekt der Kommunistischen Internationale?
Richard: Nein, Münzenberg verfügte in Wirklichkeit über eine gewisse Unabhängigkeit von der Internationale. Die Komintern finanzierte zwar Münzenbergs Tätigkeit zum Teil, seine Kontakte in Paris waren jedoch nicht immer von ihr abhängig. Die Editions du Carrefour hat Münzenberg vom Verleger Pierre Levy gekauft, den Kontakt hatte ein befreundeter französischer Schriftsteller hergestellt. Münzenberg brauchte einen einheimischen Verlag, um propagandistisch arbeiten zu können. Levy überließ ihm dafür einen Großteil der Aktien.

Dellwo: Zur Person Münzenberg noch eine Präzisierung: Er war derjenige, der in den 30er Jahren, unmittelbar nach dem Sieg der Nationalsozialisten, erkannt hat, daß man ein breites Bündnis gegen sie herstellen muß. Das ist die wesentliche Bedeutung Münzenbergs im Exil. Sein Begriff von der Breite des nötigen Bündnisses hat ihn dann später auch der Kritik der Kommunisten ausgesetzt.

Richard: Schon vor der Richtungsentscheidung der Kommunistischen Internationale auf dem VII. Weltkongreß 1935 hatte Münzenberg eine breite Einheitsfront gegen die Nazis gefordert – früher als die Internationale.

Herr Richard, Sie sind Historiker. Ist es ein rein historisches Ereignis, daß dieses Buch nun neu aufgelegt wird? Oder sehen Sie darin auch einen Beitrag zur heutigen Debatte über faschistische Tendenzen in Europa?
Richard: Ich glaube, daß das Buch auch für heute eine große Wichtigkeit besitzt. Wer die Frage, wie die Demokratie zerstört werden kann, beantworten will, muß die historischen Parallelen kennen. Wenn nicht von Anfang an die antidemokratischen Züge einer Entwicklung benannt werden, kommt es zur Gewalt. Dann stellt sich die Frage: Wie kann gegen Gewalt gekämpft werden? Der Fall der Demokratie im Deutschland der Weimarer Republik war natürlich durch die Spaltung der Arbeiterbewegung determiniert, aber eben nicht nur – auch die Politik der bürgerlichen Parteien, des Zentrums zum Beispiel, trugen dazu bei. Alle zeitgenössischen Analysen dieser Vorgänge sind heute für uns wichtig.

Sehen Sie direkte Parallelen zu heute?
Richard: Direkte Parallelen gibt es nicht, Geschichte wiederholt sich nicht einfach so. Der Fremdenhaß jedoch, die Hetze gegen Ausländer, die begannen in nazistischen Texten bereits vor 1933. Auch die Juden waren nicht allein das Ziel der nazistischen Attacken. Da gab es beispielsweise im März 1933 einen Streik bei Siemens, und da traten die Nazis mit einem Traktat auf, in dem gefordert wurde, alle Arbeitsplätze, die von Juden oder Ausländern eingenommen wurden, für Deutsche freizumachen. Fremdenhaß und Rassismus standen im »dritten Reich« auf der Tagesordnung, und Fremdenhaß und Rassismus sind nach wie vor aktuell.

Welche Rolle hat dieses Buch denn tatsächlich historisch im Kampf gegen den deutschen Faschismus gespielt? Konnte es in Frankreich genutzt werden, wurde es nach Deutschland eingeschmuggelt?
Richard: Ich glaube nicht, daß das Buch in Deutschland sehr bekannt wurde oder dort eine große Rolle im politischen Kampf gespielt hat. Die erste französischsprachige Ausgabe erschien erst 1937, ein Jahr nach der deutschsprachigen. Es wurde in Frankreich viel gekauft, es gab eine richtige Aktion unter Lehrern, die das Werk häufig erwarben. Im europäischen Ausland war es schon 1936 sehr schwierig, mit solchen Büchern politisch zu arbeiten. Die Lage wurde dann immer dramatischer, erst recht mit dem Spanienkrieg und nach der Spaltung der Arbeiterbewegung am Ende der französischen Volksfront. Da war schon die Rede von Internierungslagern in Frankreich, und das Buch wurde schnell Geschichte. Die Ereignisse überschlugen sich, dann kam der Krieg mit den deutschen Siegen in Europa. Da konnte mit dem Buch nicht mehr gearbeitet werden, die Wirklichkeit hatte es bereits eingeholt.

Dellwo: Ich war überrascht, als mir ein Kommunist aus Frankreich erzählt hat, daß genau dieses Buch vor ein paar Jahren in Frankreich wieder aufgelegt wurde. Warum hat es heute eine solche Bedeutung?

Richard: Diese Neuveröffentlichung wurde durch einen regionalen Rat im Süden Frankreichs subventioniert, kein Verleger wollte das übernehmen. Die Präsidentin der französischen Stiftung der Deportierten hat dafür das Vorwort geschrieben. Darin erwähnt sie, daß die Ereignisse, von denen das Buch handelt, schon zum Zeitpunkt der französischsprachigen Erstausgabe überholt waren – man konnte damals schon spüren, das die Zeichen auf Krieg standen. Die Initiative für die französische Neuauflage hatte ein Volksschullehrer übernommen, dessen Vater in Buchenwald ermordet wurde. Er selbst ist in der Stiftung der Deportierten aktiv und hat sich an das Vorhaben gemacht. Die Auflage beträgt vielleicht 800 Exemplare, deshalb hat es nicht viel Gewicht in unserer Presse erlangt. Trotz dieser Neuauflage ist das Buch auch in Frankreich nicht sehr bekannt.

Wie ist die erste Resonanz auf die deutsche Neuauflage?
Dellwo: Die Leute, die es gelesen haben, sind beeindruckt von dem, was in diesem Buch steht. Auch diejenigen, da beziehe ich mich selbst ausdrücklich ein, die viel zum Nationalsozialismus gelesen haben, können viel Neues erfahren. Man bildet sich ja ein, ein allgemeines und auch etwas präziseres Bewußtsein für die Nazizeit zu haben, man hat viel darüber gelesen – trotzdem ist es etwas ganz anderes, wenn man diese Dichte an zeitgenössischen Berichten vor sich hat.

Der Titel des Buches ist selbst erklärungsbedürftig. »Das deutsche Volk klagt an« ist ja 1936 so gewählt worden, den hätte ich aus aus meiner Sicht auf die damalige Geschichte heute natürlich nicht wieder produziert, weil ich weiß, daß das deutsche Volk bei den Verbrechen mitgemacht und davon profitiert hat. Das muß man bei diesem Buch dazusagen: Wir haben den Titel genommen, weil er historisch so gewählt wurde; es handelt sich ja um ein Reprint. Aber schon nach dem Lesen der ganzen Berichte weiß man: Viele Leute waren in Deutschland damals direkt in die Verbrechen involviert. Letztlich haben alle Bescheid gewußt.

Richard: Etwa seit den 80er Jahren wurden viele Bücher über die deutschen Konzentrationslager veröffentlicht. Erstaunlicherweise findet man den Titel dieses Buches in keiner Bibliographie. Das hat mich überrascht. Ich denke, daß viele Forscher eine fruchtbare Arbeit in den Archiven geleistet haben. Aber was im Exil, im Ausland geschah, gerade auch in der Vorkriegszeit, ist noch nicht gründlich genug erforscht.

Katharina Schlieper (Hrg.): Das Deutsche Volk klagt an - Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Laika-Verlag, Hamburg 2012, 410 Seiten, 24,90 Euro

 

Zum Originalartikel: http://www.jungewelt.de/2012/04-14/001.php