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Linke Geschichte muß erfahrbar sein

Linke Geschichte muß erfahrbar sein: Morgen wird in Leipzig »Schrei im Dezember« aus der neuen »Bibliothek des Widerstands« präsentiert. Ein Gespräch mit Karl-Heinz-Dellwo und Willi Baer

Interview: Christof Meueler

Wir brauchen unsere eigenen Medien: Szene aus »Schrei im Dezember« von Kostas Kolimenos, dem neuen Mediabook aus der »Bibliothek des Widerstands«, die der LAIKA-Verlag in Kooperation mit junge Welt herausbringt. Karl-Heinz Dellwo und Willi Baer sind Geschäftsführer von LAIKA. Dellwo ist Filmer und war früher in der RAF, Baer ist Produzent und war früher in der DKP.

Ist »Schrei im Dezember« der aktuelle Film zur griechischen Staatskrise?
 

Willi Baer: Der Film beschäftigt sich mit dem Tod des 15jährigen Alexis Grigoropoulos im Dezember 2008. Das Buch zur DVD geht auch auf die gegenwärtige ökonomische Situation Griechenlands ein.

Karl-Heinz Dellwo: Ebenso behandelt der Film die – ich möchte es betonen: notwendige – Revolte von Jugendlichen, die sich als ortlos und von verselbständigten politischen und ökonomischen Machtstrukturen dominiert in der heutigen Gesellschaft erkennen.

Wie und wann kamen Sie auf die Idee, eine »Bibliothek des Widerstands« herauszugeben?
 

Willi Baer: Die Idee zur Bibliothek entstand in Diskussionen über die oftmals fragwürdige »Erinnerungsliteratur«, die 2008 anläßlich von »40 Jahre 1968« veröffentlicht wurde. Wir stellen uns mit unserer Edition gegen die politische Distanzierung von Inhalten und Ausdrucksformen der Revolte.

Karl-Heinz Dellwo: Wir wollen damit dazu beitragen, daß die radikale und systemoppositionelle linke Geschichte erfahrbar bleibt. Die bürgerliche Geschichtsschreibung steht wie ein Stiefel auf der Erkenntnisfähigkeit der Menschen. Der Stiefel muß weg. Unser Material soll den Kampf um eine andere Geschichtsentwicklung als die kapitalistische fördern.

Auf welche Schwierigkeiten sind Sie dabei gestoßen?
 

Willi Baer: Die Suche nach Filmen, die Rechte-Recherche und der Lizenz­erwerb für die zahlreichen Dokumentarfilme – bisher mehr als 60 – war sehr aufwendig und beanspruchte das komplette Jahr 2009. Hinzu kommt, daß das historische Material oft sehr gelitten hat. Manche Filme lagen nur noch in verschiedenen, unvollständigen Kopien irgendwo. Das alles mußte erst restauriert, dann digitalisiert, schließlich neu zusammengestellt werden. Eine sehr aufwendige Arbeit.

Karl-Heinz Dellwo: Im Persönlichen heißt das ganz einfach auch: Aus dem Stand heraus Verleger sein ist nicht gerade einfach. Wir hatten befreundete Verlage angesprochen, um die Idee mit ihnen gemeinsam umzusetzen – da überwogen die Skepsis und der kaufmännische Blick, der das Risiko scheute. Da haben wir es dann einfach gemacht. Wir hoffen, das Projekt findet genügend Unterstützung.

Die Themen der Filme der »Bibliothek des Widerstands« reichen von A wie »APO« bis Z wie »Zapatisten«. Nach welchen Kriterien wählen Sie aus?
 

Willi Baer: Es hat sich als unmöglich herausgestellt, die Filme chronologisch herauszugeben. Das ist zum einen finanziell nicht möglich, zum anderen würde es zu lange dauern. Denn es dauert oft Monate, bestimmte Filme zu finden, die Verträge zu machen, sie zu bearbeiten, zu übersetzen usw. Wichtig ist doch, und das ist garantiert, daß die wichtigsten sozialen und Befreiungsbewegungen ab Mitte der sechziger Jahre bis heute dargestellt sind – und zwar auf weltweiter Ebene, also neben den Zapatisten auch die Zengakuren-Bewegung in Japan oder die indischen Naxaliten. Unsere »Bibliothek des Widerstands« ist in dieser Form weltweit einmalig.

Karl-Heinz Dellwo: Eine chronologische Herausgabe ist auch nicht nötig und würde uns behindern, das Aktuelle zu integrieren wie z.B. den Film »Schrei im Dezember«. Wir wollen die Verbindung von Revolte damals und heute. Unser Ziel ist ja, die Erfahrungen aus den Aufständen und Revolten von damals für die von heute produktiv zu machen. Es ist eine Besonderheit unserer Edition, daß sowohl die Bücher als auch die dazugehörenden Filme jeweils eigenständige Werke sind, die zusammen ein von uns angebotenes Mediabook bilden.

Sie haben auch viele TV-Filme ausgegraben, die nicht mehr gesendet werden. Gibt es für Sie in der Gegenwart überhaupt noch so etwas wie kritisches Fernsehen? Oder können Sie wie ich das normale Fernsehprogramm kaum noch ertragen und schauen nur noch DVD?
 

Willi Baer: Die Privatsender hatten schnell den Boden des Unerträglichen erreicht. Die öffentlichen Sendeanstalten eilen hinterher. Mit dem Glauben, daß die bürgerliche Welt für die Zukunft triumphiert hat, verblödet auch alles. Es gibt aber noch immer Nischen wie Phoenix, 3Sat und Arte, die versuchen, ihrem Programmauftrag gerecht zu werden. Wir brauchen unsere eigenen Medien. Das Internet ermöglicht bald schon ein anderes Fernsehen von unten, Indymedia ist hier nur ein Beispiel. Wir möchten Schritt für Schritt Teil dieser Bewegung für ein »TV von unten« werden und in absehbarer Zeit die Filme auf neuen Internetkanälen zeigen können. Eine weltweit vernetzte Bewegung des radikalen Dokumentarfilms, der unterdrückten Nachrichten ist keine Utopie mehr, sondern wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren Realität sein.

»Schrei im Dezember« von Kostas Kolimenos ist eine filmpoetische Mischung aus Demo-Dokumentation, Interviewauszügen, Musikeinspielungen und literarischen Slogans. Was meinen Sie: Greift man die politischen Konventionen mit konventionell gemachten Filmen an, damit das möglichst viele Menschen verstehen – oder gibt es auch so etwas wie eine widerständige  Formsprache? Anders gefragt: Unterscheiden Sie zwischen Aufklärung und Kunst?
 

Karl-Heinz Dellwo: Wir haben andere Unterscheidungskriterien: Wir unterscheiden bei unserer Film- und Textauswahl zum Beispiel nach der Frage: produktive Kritik oder bürgerliche Abrechnung. Für letzteres stellen wir unseren Raum und unsere Arbeit nicht zur Verfügung. Aber mit jeder neuen Revolte tritt auch eine neue Formsprache auf. Man kann, wie im Film »Schrei im Dezember« dargestellt, in den zerstörten Glasscheiben der Einkaufsmeilen auch eine neue öffentliche Kunst sehen, eine, die die Orte der Geschlossenheit durchbricht und die Ungerechtigkeit der Gesellschaft öffentlich als etwas zur Schau stellt, das attackiert werden muß.

In diesem Jahr soll noch ein Mediabook zum Weather Underground erscheinen. Haben Sie schon eine Vorstellung, wie Sie die deutsche Stadtguerilla verhandeln wollen?
 

Karl-Heinz Dellwo: Eine Vorstellung hätte ich schon. Es wäre eine Mischung aus einer radikalen Verteidigung des Grundsätzlichen und einer radikalen Kritik der eigenen konkreten Praxis. Dazu müssen aber alle aus diesem Zusammenhang die eigenen Gefängnisse sprengen. Das ist bekanntlich schwieriger, als die der Feinde zu stürmen. Diese Frage begleitet mich bei dieser Bibliothek die ganze Zeit. Ich kann sie aber auch nicht alleine beantworten. Jeder aus unserem Kontext, der überlebt hat und agieren kann, sollte sie sich stellen.

Willi Baer: Wir wollen auch nichts verhandeln. Alle Protest- und Widerstandsformen verhandeln sich selber. Wir arbeiten daran, daß sie für jeden leicht öffentlich wieder zugänglich sind. Dafür macht man diesen ganzen Aufwand auch gerne.


(c) Junge Welt