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"Ich bin kein Pazifist"

Karl-Heinz Dellwo sagt, dass er im Krieg war – gegen die Bundesrepublik Deutschland. Er hat ihn mit Todesverachtung geführt. Heute findet er: Das war unmenschlich.

VON AXEL VORNBÄUMEN / DER TAGESSPIEGEL

26.3.2007 0:00 Uhr

Herr Dellwo, nächste Woche wird Brigitte Mohnhaupt aus dem Gefängnis entlassen, nach 24 Jahren Haft. Ihr einstiger RAF-Kampfgenosse Christian Klar hofft auf die Gnade des Bundespräsidenten, damit er nicht die vollen 26 Jahre absitzen muss. Sind die letzten ein, zwei Jahre im Knast die schlimmsten?


Nein. Irgendwann weiß man, dass man mehr hinter sich als vor sich hat, und das gibt einem auch Gelassenheit. Allerdings: Für die, die heute noch im Gefängnis sind, sind die letzten Jahre sicher härter, da sie nur Zeit „absitzen“, die für einen selber politisch keinen Sinn ergibt. Da spürt man, dass man älter wird und mit jedem weiteren Jahr im Gefängnis mehr an Lebenszeit verliert. 

Sie selbst waren insgesamt 21 Jahre in Haft. 

Wir hatten früher mal die Vorstellung, ein paar Jahre kann so etwas immer dauern, aber irgendwann werden wir irgendwie befreit. Hoffnung hat man immer. Nach 1977 war dann klar, dass es lange werden kann. Als ich 1978 in den Trakt nach Celle verlegt wurde, hat mich der Anstaltsleiter mit den Worten begrüßt. „Hier kommen Sie nicht mehr raus!“ Er hatte eigens eine Krawatte mit Deutschlandflagge umgebunden.

Da begann für Sie die bleierne Zeit? 

Der Begriff ist mir zu besetzt …

… waren es verlorene Jahre? 

Nein, für mich nicht. Die Bedingungen waren hart, eigentlich nicht aushaltbar. Aber wenn es ums Existenzielle geht, dann weiß man, was man verteidigt und was verloren ginge, würde man sich unterwerfen. 

Mit was beschäftigt man sich? 

Viel mit Lesen und Nachdenken. Nach 1977, nach unseren politischen und moralischen Katastrophen, habe ich lange Camus gelesen, „Der Mensch in der Revolte“, habe den kompletten Mao durchgearbeitet, habe mich mit Jean-Paul Sartre beschäftigt. Besonders an Sartres Satz: „Wer keine Angst vor dem Tod hat, der weiß nicht, was das Leben bedeutet“, habe ich sehr herumgeknabbert. Wir sind ja als RAF mit ziemlicher Todesverachtung vorgegangen, nicht gerade mit Freude, aber doch achselzuckend. Außerdem habe ich die Zeit kleingemacht, ich habe nur von Jahr zu Jahr gedacht. 

Mit Kreidestrichen an der Zellenwand? 

Das eignet sich nur für die Satire. Die wären außerdem sofort weggewischt worden.

Hätte es Sie denn geschreckt, wenn Sie vorher von den 21 Jahren gewusst hätten? 

Könnte so etwas nicht schrecken?

Sie haben sich nach der Freiheit gesehnt. 

Diese Sehnsucht war immer da. Man versucht, sie wachzuhalten und immer wieder ist sie selber da, da reicht schon die schöne Besucherin hinter der Trennscheibe. Ich habe im Gefängnis in Celle fast zweieinhalb Jahre in weitgehender Geräuschlosigkeit verbracht. Ich habe darüber sogar meine Sprache verloren. Ich habe mit den Wärtern ja kein einziges Wort geredet. 

Nicht mal ein „Guten Tag“? 

Nein, kein Wort. Kein „Guten Tag“, kein „Danke“, kein „Bitte“. Wenn ich etwas wollte, habe ich Zettel geschrieben oder beispielsweise auf Brot gedeutet. Die Botschaft war: Mit euch haben wir nichts gemein! So haben sich meine Stimmbänder zurückentwickelt. Später habe ich dann laut gelesen. Was die Sehnsucht angeht: Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, als über die Belüftungsanlage der Geruch von frischem Heu in meine Zelle kam. Das hat so unendlich viel an Erinnerung hervorgeholt, da muss man die Sehnsucht auch zulassen.

Was war das Erste, was Sie gemacht haben, als Sie aus der Haft entlassen wurden? 

Ich bin kurz danach ans Meer gefahren, endlich eine freie Sicht und ein Sicheinlassen darauf, dass etwas anderes anfängt. Tage später bin ich geschwommen, das konnte ich vorher nicht. Ich habe es mir in der Haft jahrelang vorgestellt, wie es geht. Ich war mit einer Freundin an einem See, es hat auf Anhieb funktioniert. Ich schwimme heute sehr gerne, am liebsten im Meer, manchmal anderthalb Stunden und auch recht weit raus. Ich bin mal von einem Polizeiboot gestoppt worden. Die hatten Angst, dass ich es nicht zurück ans Ufer schaffe.

Das System – dein Freund und Helfer! 

Bisweilen schon. Es kann aber auch Repression und Unterdrückung sein. In meiner ersten Zeit in Freiheit habe ich mir manchmal einen Spaß daraus gemacht, in fremden Orten Polizisten nach dem Weg zu fragen. Die waren dann meistens freundlich auskunftsbereit. Vielleicht war das ja so etwas wie eine Normalisierungsübung für mich. 

Der frühere Generalbundesanwalt Kay Nehm hat gesagt, in Ihrem Fall wäre es schwerer gewesen, Sie aus dem Knast rauszukriegen als zuvor hinein. 

Ich fand die Darstellung witzig. Wir hatten uns geweigert, ein Gutachten erstellen zu lassen. Es war so: Die von uns, die auf ihrem eigenen Ich bestanden haben, die haben ihre Strafe bis zum letzten Tag abgesessen. Nehm hat sein Amt, wenn ich das mal nebenbei bemerken darf, eigentlich nicht schlecht geführt. 

Die Öffentlichkeit sah in Ihnen einen Terroristen. 

Ich komme gegen den Begriff nicht an. Ich sehe mich nicht so. Ich habe es damals auch nicht so empfunden, dass wir, die RAF, Angst und Schrecken verbreitet hätten. Ich weiß aber, wie subjektiv diese Wahrnehmung ist. Ich erinnere mich noch, wie aggressiv ich seinerzeit die Bundestagsdebatten von 1974 und 1975 zur inneren Sicherheit empfunden habe. Ich habe mir das in den 90er Jahren noch mal angeschaut. Da konnte ich anderes sehen, auch, dass denen die Panik im Gesicht stand.

Und Ihnen nie? 

Wer weiß schon, was für andere im eigenen Gesicht steht? Unsere Entscheidung für den bewaffneten Kampf war eine, die unumkehrbar sein sollte. Das Unumkehrbare hat die RAF gekennzeichnet. Wir waren aus der Gesellschaft ausgetreten, wir wollten unter keinen Umständen integriert sein. Wir haben gekämpft in der Überzeugung, dass uns unser Leben vom System ohnehin gestohlen wird und wir es uns zurückerobern müssen. Ich habe nie große Angst vor dem Tod gehabt …

 bei der Botschaftsbesetzung in Stockholm nicht? 

Nein, da hatte ich einen gewissen Fatalismus. Ich war geprägt vom Hungertod von Holger Meins, den ich als bewussten Akt einer Staatspolitik interpretiert hatte, die uns mit jedem erdenklichen Mittel zum Abschwören und zur Systemakzeptanz zwingen wollte. Ich hatte gar keine Illusionen über unsere Zukunft. Schwedens Premier Olof Palme hatte uns damals ja angeboten, uns außer Landes fliegen zu lassen. Das hat uns nicht interessiert.

Haben Sie die Bilder vom 24. April 1975 noch im Kopf – die zerstörte Botschaft, die Opfer ? 

Ziemlich genau.

Träumen Sie davon? 

Nein. Aber ich denke oft daran.

Sie waren zu sechst und wollten als „Kommando Holger Meins“ die Häftlinge von Stammheim freipressen. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt ging nicht darauf ein. Zwei ihrer Gesinnungsgenossen und zwei Geiseln starben. Man weiß immer noch nicht, wer die tödlichen Schüsse in der Botschaft auf die Diplomaten Andreas von Mirbach und Heinz Hillegaart abgegeben hat. 

Ich werde es auch nicht enthüllen. Vielleicht ist es eine Art Widerstandsakt gegenüber einem Ansinnen, dass wir uns so zu verhalten hätten, wie es andere sich wünschen. Ich stehe aber nicht zur freien Disposition. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich aus einer Verantwortung herausstehle. 

Den Angehörigen der Opfer ist das aber wichtig. 

Ich weiß nicht, was sie dann mehr wüssten. Wir sind nicht in irgendeiner Masse versteckt, wir waren zu sechst und sind klar identifiziert mit Gesicht und Namen. Und wir haben uns dazu bekannt und nie etwas geleugnet. Ich habe immer die Kollektivschuldthese vertreten. Ich mache auch die damalige erwachsene deutsche Bevölkerung für die Verbrechen in der Nazi-Zeit verantwortlich. Ich habe genauso die kollektive Verantwortung und Schuld für alles, was in meinem Zusammenhang, also im Zusammenhang „Kollektiv RAF“ gemacht worden ist. Was Stockholm angeht, so bin ich mitverantwortlich für den Tod der beiden Botschaftsangehörigen, hier trägt jeder von dem Kommando die gleiche, ungeteilte Schuld. 

Das haben Sie zu Anfang nicht so gesehen. 

Die Verantwortung schon, das Nichtlegitime der Aktion habe ich erst später gesehen, im Nachdenken nach 1977. Da bin ich irgendwann zu der Erkenntnis gekommen, dass wir dann erst frei für etwas Neues sind, wenn wir von den alten Verhältnissen abgetrennt sind, wenn wir sie als Problem registrieren, sie aber für uns nicht mehr der Bezugspunkt für unsere eigenen Aktionen sind. Beim Tod von Holger Meins hatte ich mir noch gesagt, dass sie, der Staat, die herrschende Klasse, die Gegenseite, wie immer wir das genannt haben, das zurückgezahlt bekommt. Wir haben Trauer gleich in politische Aktion umgewandelt.

Sie wähnten sich mit dem Staat auf Augenhöhe? 

Ja, wir hatten Kriegshändel miteinander. Ihre Toten für unsere Toten.

Das ist Frontkämpferrhetorik. 

Ich bin kein Pazifist, ich glaube nicht an die friedliche Veränderung der Welt. Wenn ich unsere Handlungen aber an Überlegungen binde, was Gegengesellschaft ausmachen könnte, dann war offenkundig, dass wir von keiner Gegengesellschaft und Gegenmoral reden können, wenn dies Geiselerschießungen und somit die vollständige Verdinglichung von Menschen beinhaltet. Es wäre nur eine barbarische Gesellschaft. Heute akzeptiere ich, dass unsere Handlungen Folgen für uns haben mussten. 

Eine späte Einsicht. 

Was soll ich dazu sagen?

Das Jahr 1977 mit dem sogenannten Deutschen Herbst, den Morden, der Entführung der „Landshut“ nach Mogadischu und der Todesnacht von Stammheim war für Sie die entscheidende Zäsur? 

Ja, in vielerlei Hinsicht. Im Nachhinein war es das soziale Ende des „Kollektivs RAF“ als Anspruch auf die Entwicklung von Befreiungsvorstellungen. Alles, was es vorher an Ansätzen für andere Strukturen gab, hatte sich selbst dementiert und aufgelöst. 1974 schrieb Holger Meins noch im maoistischen Terminus „dem Volke dienen“, drei Jahre später wurden Normalbürger mit der Zustimmung zur Entführung der „Landshut“ zum taktischen Objekt gemacht … 

Der Pilot Jürgen Schumann wurde umgebracht. 

Da haben wir selber dementiert, dass wir zur Aufstellung von gegengesellschaftlichen Strukturen fähig sind. Die Stammheimer haben dann mit ihrem Selbstmord die Konsequenz daraus gezogen. Wir waren nicht in der Lage, einen neuen sozialen Bezug zu konstruieren, unsere „revolutionäre Identität“ war offensichtlich doch noch zu schwach. Man sieht in vielem ein Verdrängen und Behaupten, wozu auch die Mordthese an den Stammheimer Gefangenen gehörte. 

Sie meinen das Hochhalten einer Lüge, dass die Gefangenen in Stammheim umgebracht worden sind? 

Das ist alles nicht so eindeutig. Es bleibt für mich ein Selbstmord unter staatlicher Aufsicht. Es gibt genügend Gründe, davon auszugehen, dass jemand vom Staatsapparat über die Waffen im Trakt und über die Selbstmordabsichten informiert war. Zuschauen bedeutet dann aber auch Ausdruck des Wunsches: Sie sollten tot sein. Deswegen sage ich auch: Die Frage Mord oder Selbstmord verschwindet hier in ihrer eindeutigen Unterscheidung.

War die RAF nach 1977 eine andere? 

Das Soziale wurde ersetzt durch das Militärische, ein schleichender Wandel vom Inhalt zur Form. Das allerdings ist das Erbe einer Konfrontation, wo auch von Staatsseite jeder politische Blick polizeilich bekämpft, also ebenso militaristisch festgezurrt ist. In den 80er Jahren hatte sich die Politik der RAF dann darauf reduziert, Systemvertreter zu erschießen. In meinem Buchbeitrag habe ich geschrieben: „Das Erschießungskommando wurde ihnen zum Ausdruck klarster Radikalität, in der richtigen Wahrnehmung von außen aber zur schlimmsten Bloßstellung.“ Dabei sind diese Unerträglichkeiten begangen worden wie die Erschießung des MTU-Managers Ernst Zimmermann. Er und seine Frau wurden an einen Stuhl gefesselt und er mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet. 

Wo ist für Sie der Unterschied zu den Geiselerschießungen von Stockholm? 

Beides ist unmenschlich, wenn Sie das meinen. Stockholm aber hatte das Ziel, die Gefangenen zu befreien, der Mord an Zimmermann war von vornherein nur das kalte Umsetzen einer Abstraktion. 

Die Loslösung aus der Gesellschaft nannte die RAF den „Sprung“. Sie haben einmal geschrieben: Wir sind gesprungen, ohne anzukommen. Gibt es mittlerweile eine Chance für Sie, irgendwann zu landen? 

Sie meinen eine Versöhnung mit dem System? Hier sind Verhältnisse inzwischen normal, die hätte jenseits der RAF und anderer Militanz in den 70ern kaum jemand hingenommen. Wir wollten früher den 24-Stunden-Tag des Widerstands haben und sind heute mit dem 24-Stunden-Tag des Kapitals konfrontiert, der den Objektstatus des Individuums zementiert.

Das hört sich nach Rechtfertigung an. 

Ich glaube, dass diese Art der RAF-Debatte, die derzeit läuft, die getragen ist von Rache, Niederschlagen und Wegdrücken, auch damit etwas zu tun hat. Ich hänge für mein Leben nicht daran, dass ich richtig lag. Aber selbst, wenn es so wäre, dass alles falsch war, dann ist nur unsere Antwort auf ein Befreiungsbedürfnis von dieser kapitalistischen Vergesellschaftung falsch gewesen, in der der Mensch das Unwesentlichste von allem ist. Die Frage aber bleibt. Heute wird das Absurde versucht, nämlich das bürgerliche System als etwas hinzustellen, das nicht in Frage gestellt werden darf. Eine solche Zukunft wäre für mich aber ohne jede Hoffnung. Auch das bürgerliche System ist nur ein Durchgangsstadium in der Geschichte.

Und Sie selbst haben gar nichts Bürgerliches an sich? 

Ach natürlich, jede Menge. Ich mache Urlaub, freue mich über Ruhe im Privaten. Ich denke nicht mehr wie früher von außerhalb der Gesellschaft. 

Wie leben Sie in Deutschland? 

Ich könnte auch woanders leben. 

Wo denn? 

Nur da, wo ich fremd wäre.

Karl-Heinz Dellwo, 55, war Mitglied der Rote Armee Fraktion (RAF). 1975 war er am Überfall auf die Deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt. Bei dem Versuch, inhaftierte Terroristen freizupressen, wurden vier Menschen getötet. Dellwo saß bis 1995 in Haft und lebt heute als Dokumentarfilmer in Hamburg.